Gleich bist du tot
ihr Opfer sie hörte, wollte, dass dem Mädchen das Adrenalin ins Blut schoss. Er rief ihr Bild auf den Bildschirm des Laptops. Sie saß auf dem Bett und lauschte angestrengt. Er bedeutete Maria, ihm zu folgen, und stieg die Treppe hinauf, wobei er mit den Füßen gegen die hölzernen Stufen polterte. Das Vorhängeschloss war ein kompliziertes Ding, das dreifach gesichert war und ihm jedes Mal mehrere Versuche abverlangte, es zu öffnen. Als er es endlich geschafft hatte, schob er den Riegel zurück, drückte die Tür auf und drängte Maria vor sich in den Raum. Sie stellte das Tablett auf den winzigen Bambustisch am Fuß des Betts. Es war ein hässliches, billiges Ding, das sie auf dem Dachboden gefunden hatten. Bei ihrem Einzug ins Cottage hatte das kleine Gästezimmer noch ziemlich heimelig gewirkt, aber sie hatten bis auf das Notwendigste alles ausgeräumt. Ihr Opfer sollte nichts Tröstendes um sich haben.
January Shepherd blieb auf dem Bett sitzen. Sie bewegte sich nicht, sondern starrte sie nur an. Vielleicht versuchte sie etwas in ihren Augen oder an den Lippen zu erkennen, die durch die schmalen Öffnungen ihrer Strumpfmasken sichtbar waren. Maria hatte gefragt, wozu sie die Masken immer noch bräuchten, jetzt, nachdem sie ihr Opfer hier oben sicher eingesperrt hatten. Brady hatte ihr daraufhin erklärt, die Masken fügten der Gleichung eine weitere Variable der Unsicherheit hinzu: Vielleicht hatte January ihre Phantombilder und das Videomaterial gesehen, aber so würde sie nicht sicher wissen, wer sie denn nun entführt hatte, die berühmte Videobande oder doch jemand ganz anderer.
Brady hielt seine vorher eingeübte Rede.
»Etwas zu essen, etwas zu trinken. Alles für dich. Meine Kollegin wird dir jetzt die Handschellen abnehmen und das Klebeband entfernen, falls du versprichst, dich ruhig zu verhalten. Kein Schreien, kein Rufen, kein Versuch, irgendwas Dummes anzustellen. Einverstanden?«
January sah die beiden ein, zwei Sekunden lang an, reglos. Dann senkte sie den Blick und nickte.
Maria hatte Schwierigkeiten, das Klebeband herunterzubekommen, bis sie endlich die Finger unter ein Ende bekam und genug davon zu fassen kriegte, um es mit einem Ruck herunterzureißen. January jaulte laut auf, aber Brady achtete nicht weiter darauf. Maria schloss die Handschellen auf und hängte sie sich an den Gürtel.
»Wer sind Sie? Was soll das alles . . .«
Maria schlug sie, wenn auch nicht so grob, wie Annabel es getan hätte.
»Wenn er sagt, du sollst ruhig sein, meint er es auch so. Verstanden?«
January rieb sich das Gesicht, wo Maria sie erwischt hatte. Die Bewegung war langsam, unbeholfen, eckig, was daran lag, dass ihre Arme nach all den Stunden in Handschellen steif und unbeweglich waren. Die Handgelenke waren rot und geschwollen.
Sie nickte wieder.
»Das ist schon besser«, sagte Brady. »Halt den Mund, dann kommst du hier vielleicht heil wieder heraus.«
Maria schob den kleinen Tisch ein Stück heran, damit January an das Essen kam, ohne aufstehen zu müssen.
»Siehst du«, sagte Brady. »Mach es uns recht, dann machen wir es auch dir recht.«
Er zog sich zur Tür zurück, Maria folgte ihm. Sie wandten noch einmal die Köpfe, um ihr Opfer anzusehen, bevor sie hinausgingen. January hatte das Essen noch nicht angerührt, sondern verfolgte jede Bewegung ihrer Peiniger. Brady studierte ihr Gesicht und glaubte zu sehen, wie sich eine Frage auf ihren Lippen formte, eine von Hunderten, die ihr im Kopf brennen mussten. Er fischte den Schlüssel aus der Tasche und hielt den Zeigefinger der anderen Hand an die Lippen.
»Kein Wort«, sagte er. »Sprich nicht einmal laut mit dir selbst.« Er nahm die Hand etwas tiefer und fuhr sich mit der flachen Kante über die Kehle. »Kein Wort, sonst . . .«
28
Jacobson tat, was er immer zu tun versuchte, wenn einer seiner Fälle plötzlich über die Maßen ernst wurde: Er murmelte eine Entschuldigung, ging in sein Büro, machte die Tür hinter sich zu, setzte sich an seinen Schreibtisch und dachte nach. Diesmal entschuldigte er sich damit, dass er nachfragen müsse, wie es in Birmingham, Coventry und Wolverhampton stehe. Nahm man die vier beteiligten Dezernate zusammen, waren jetzt insgesamt vierundzwanzig Beamte an der Operation Icarus beteiligt. Dazu genossen alle Ersuche um sofortige Hilfe bei den Ermittlungen absolute Top-Priorität, im gesamten CID, bei den Spurensicherern und den uniformierten Kollegen. Das hatte vor zehn Minuten Jacobsons unangenehmes
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