Gleitflug
Obwohl er eindeutig sie meinte, ignorierte sie ihn immer noch.
»Ich hatte dich zuerst gar nicht erkannt«, fuhr er zaghaft fort. »Wenn ich mich nicht irre, warst du früher blond … Gieles hatte dich schon erwähnt und gesagt, dass du bei mir Geschichte hattest … Bist du denn … Ärztin geworden?«
»Nein«, sagte sie scharf. Sie setzte die große Sonnenbrille auf. Ihr Pokerface war wieder komplett. Erst jetzt wandte sie sich ihm zu. »Ich bin wie die anderen Mädchen geworden. Ich hab’s nur zur Friseurin gebracht. Ärztin war eine Nummer zu groß für mich.«
Langsam senkte sie den Kopf, die dunklen Brillengläser schienen die braune Kutte abzuscannen. Gieles war froh, dass man ihre Augen nicht sehen konnte.
»Stimmt, auf der Schule war ich blond. Deshalb hast du mich nicht erkannt. Aber …« Sie schob eine lange Pause ein, verschränkte die Arme und bohrte die scharfen Nägel in das Fleisch über den Ellbogen. »Dich erkenne ich immer noch nicht wieder. Ich kann beim besten Willen in diesem, in diesem Körper nicht meinen netten Geschichtslehrer sehen.«
Sie umklammerte den Griff des Buggys. »Bis später, Gieles. Ich such mir schon einen Platz. Gib dir Mühe. Und kämm dich mal, siehst wild aus.« Weg war sie.
Verdammtes Miststück!
Gieles starrte auf den Rest seines Pfannkuchens. Die Aufregung hatte ihm sowieso schon den Appetit verdorben, jetzt war ihm sogar etwas übel.
»Das war wohl nichts«, sagte Super Waling.
Gieles kniff die Augen zusammen. »Von mir aus braucht sie nicht zu kommen. Das war so unglaublich gemein.«
»Schon in Ordnung, Gieles. Sie darf ruhig enttäuscht sein.« Er klopfte ihm auf den Unterarm.
»Wenn sie das von dir wüsste … würde sie … nie so was sagen.« Gieles kämpfte mit den Tränen.
»Wenn sie was wüsste?«
»Das von damals! Dass du die vielen Menschen aus dem Flugzeug gerettet hast, mit deinem Vater!«
Super Waling schüttelte missmutig den Kopf. »Ach was«, sagte er.
»Ihr seid Helden!«, rief Gieles aufgeregt. »Davon weiß Dolly unter Garantie nichts!«
»Ich habe niemanden gerettet«, unterbrach ihn Super Waling. Eine Frau mit langem Rock und Schürze sammelte die Teller ein. Sie begrüßte Waling herzlich.
Er wartete ab, bis sie wieder gegangen war. »Also, Gieles, ich war nichts weniger als ein Held.«
»Aber es hat in der Zeitung gestanden! Du warst in der Zeitung!«
Waling seufzte. »Mit diesem Unglück … verhält es sich ganz anders, als die Leute glaubten.«
Gieles schaute ihn verständnislos an.
»Das ist keine ganz unkomplizierte Geschichte … Dolly weiß nichts von dem Unglück und allem, was damit zusammenhängt. Ich habe später nie mehr davon gesprochen.«
»Dolly ist ein Miststück.«
»Aber nein«, widersprach Super Waling. »Ich kann verstehen, dass sie so reagiert. Ich weiß, dass sich andere vor mir ekeln oder sich in meiner Gegenwart schämen.«
»Ich nicht. Ich schäme mich nicht … Am Anfang ein bisschen, aber jetzt nicht mehr.«
»Danke, Gieles.«
»Ich hab Wallie nach dir benannt. Waling, Wallie.«
»Das habe ich auf dem Anmeldeformular gesehen … Du kannst dir nicht vorstellen, welche Freude du mir damit bereitet hast. Eine Herzensfreude.«
»Ich will nicht, dass du platzt …« Er konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten und verbarg sein Gesicht hinter den Händen.
»Ach, Gieles. Wein ruhig. Es sieht sowieso niemand, ich bin ja wie eine Wand zwischen dir und den Leuten. He, ich platze bestimmt nicht. Es ist wahrscheinlich noch nicht zu sehen, aber ich versuche gerade abzunehmen. Wirklich. Es ist nämlich so, dass ich seit kurzem wieder ein bisschen Spaß am Leben habe.«
24
Gieles lag im Bett. Erschöpft. Aufgeregt. Deprimiert. Lüstern. Überreizt. Ihm schwirrte der Kopf von den Eindrücken des Tages, in seinem Körper schienen die Hormone verrückt zu spielen. Er versuchte sich auf seinen Atem zu konzentrieren. Aber beim vierten tiefen Einatmen durch die Nase schoss ihm ein neuer Gedanke durch den Kopf. Ob dieses Gegrübel irgendetwas in seinem Gehirn kaputtmachen konnte? Er dachte an die Kabel der Stereoanlage, die eines Tages verschmort waren.
Obwohl Wallie sich an seine Haare drückte, versuchte er möglichst entspannt zu liegen; seine Kopfhaut kribbelte. Er musste den Nachmittag rekonstruieren.
Meike sitzt neben mir im Auto und sagt, dass Wallie und ich unheimlich gut gespielt haben. Sie streichelt Wallie, die bei mir auf dem Schoß liegt. Ihre Hand berührt meine, und ich weiß genau, dass
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