Gleitflug
sie das absichtlich macht, sie müsste meine Hand eigentlich nicht berühren. Papa fährt. Wir hören einen alten Song. Onkel Fred sagt, das sind die Beatles. Ich bin mit allem zufrieden, nicht mal Mama fehlt mir jetzt. Wir sind fast so eine Art Familie. An der Ampel steht eine Frau, die in den Wagen schaut. Ich versuche uns mit ihren Augen zu sehen und muss lachen. Eine komische Familie. Papa biegt in unsere Straße ein und fährt langsamer. Er lehnt sich an die Fahrertür und schaut abwechselnd nach oben, auf die Piste und auf die Straße, nach oben, auf die Piste, auf die Straße. Plötzlich ruft Onkel Fred: »Was liegt denn da?« Wir sehen ein weißes Kissen am Straßenrand. Ein kaputtes Kissen. Überall liegen Federn, und dann wird mir klar, dass es kein Kissen ist. »Scheiße«, sagt Papa und hält an, wir steigen aus. Meike fängt an z u weinen. Sie weint, wie sie schreit, fällt auf die Knie und begräbt das Gesicht im Umhang. Die Gans sieht seltsam aus. Viele ihrer Schwungfedern sind ausgerissen, und der Hals ist völlig verdreht, er erinnert an ein Drahtseil. Ich sehe sofort, dass sie nicht von einem Auto angefahren oder von einem Fuchs umgebracht worden ist. Papa hebt sie an dem verdrehten Hals hoch, und Meike weint noch lauter.
»Schläfst du schon?«
Gieles hatte nicht gemerkt, dass sie hereingekommen war. Er richtete sich schnell auf, seine Hand strich automatisch über sein Haar, aber er versuchte so zu tun, als wäre es ganz normal, dass ein Mädchen im Hemd neben seinem Bett stand. »Nein, ich hab noch nicht geschlafen.« Seine Stimme überschlug sich scheußlich.
»Darf ich mich zu dir legen?«
»Klar«, antwortete er viel lauter als beabsichtigt und drückte sich mit dem Rücken an die Wand, so dass Meike fast das ganze Bett für sich hatte.
»Unten brauch ich die Bettdecke, aber hier oben ist es echt knallheiß.«
Sie drehte sich auf den Bauch und streichelte Wallie über den Hals. Das Gänschen schlief, den Kopf im Gefieder.
»Ich muss die ganze Zeit an die Gans denken«, sagte Meike. »Wenn ich den Briefträger treffe, bring ich ihn um. Ich schwör’s.«
Gieles betrachtete im Halbdunkel ihr Profil. Sie hatte ein perfektes Gesicht, abgesehen von dieser unheimlichen Spinne in einer Augenbraue und dem komischen Tattoo. Er fragte sich, ob es etwas mit ihrem Aussehen zu tun hatte, dass sie nicht mehr zur Schule ging. Vielleicht wurde sie gemobbt.
»Warum willst du nicht mehr zur Schule?« Diese Frage wagte er nur zu stellen, weil sie jetzt neben ihm lag. Er war hellwach.
Erst nach ein paar Minuten antwortete sie. »Ich war vom Unterricht ausgeschlossen worden, und danach wollte ich nicht mehr. Diese Schule ist echt das Letzte.«
»Weshalb hatte man dich denn ausgeschlossen?«
Verdirb jetzt nicht alles! Sie ist doch nicht gekommen, um zu reden!
Sie legte das Kinn auf den linken Unterarm.
»Du musst nichts erzählen, wenn du keine Lust hast. Wir können auch Musik hören oder so.«
Er hätte mehr Rizla-Vögel opfern müssen. Ganze Alben. Im Augenblick passierte so viel, dass er nicht zum Verbrennen kam.
»Ich hab ins Auto von meinem Sportlehrer gepinkelt.«
»Von deinem Sportlehrer? Mit Absicht?«
Sie nickte.
»Nee, oder?!« Er stieß sich den Hinterkopf an der Wand. »Warum das denn?«
»Er kam in den Mädchenwaschraum, als ich geduscht hab. Ich musste länger dableiben, die Halle aufräumen, und wie ich danach unter der Dusche steh, glotzt der geile Sack rein. In der Woche danach bin ich mit zwei anderen Mädels zu ihm rein, als er geduscht hat. Er ist ziemlich groß, aber er hatte so eine Minigurke.«
Sie streckte ihren kleinen Finger aus. »Von da an haben wir ihn Mäuseschwanz genannt. Mäuseschwänzchen. Wir haben ihn ziemlich angefuckt«, sagte sie und fummelte an ihrem Piercing herum. »Dann kam das Sportfest, praktisch nur mit Leichtathletikdisziplinen, in denen ich gut bin.«
»Du?«
»Im Hürdenlauf bin ich echt gut.«
Gieles lachte. »Aber dafür muss man doch lange Beine haben … und sportlich sein …«
Sie knuffte ihn in den Arm, aber der gewohnte Lachanfall blieb aus. Sie wirkte ernst. »Die Größe ist nicht wichtig, sondern Technik und Kondition. Aber darum geht’s jetzt nicht. Beidem Sportfest wurden Preise vergeben. Neben der Bahn stand ein Podium, wo Mäuseschwanz die Ergebnisse bekannt gab und Medaillen verteilte. Ich war Erste, und als er mir die Medaille umhängte, hab ich ihm schon angesehen, dass er mir was reinwürgen wollte. Eine Minute später
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