Gleitflug
zu zerbrechen.
Was ich immer geahnt hatte, war nun offensichtlich, und es traf mich wie ein Keulenschlag. Meine Eltern hatten sich kaufen lassen. Sie hatten Schweigegeld angenommen, und jetzt, ein Vierteljahrhundert nach dem Unglück auf unserem Rübenacker, fiel dieses Schweigegeld mir in die Hände.
Ich wollte die 2,2 Millionen nicht. Pieternel wollte sie. Ich offenbarte ihr mein krankmachendes Geheimnis, und sie hörte zu. Geduldig, verständnisvoll. Sie fand es schrecklich, dass ich die ganze Zeit mit dieser schweren Last hatte leben müssen. Sie legte ihren molligen Arm um meine mollige Schulter und erklärte mir liebevoll, warum es besser für mich sei, das Geld anzunehmen. Auch ich sei ein Opfer, hätte gelitten und deshalb ein Recht auf Entschädigung. Und als Lehrer verdiente ich ja nicht viel. Im Grunde sei mein Gehalt doch kaum mehr als ein Trinkgeld. Es war mir neu, dass sie so über mein Gehalt dachte.
Ich blieb bei meiner Meinung. Ich wollte das Erbe meiner Mutter nicht.
Pieternel zog ihren tröstenden Arm weg und setzte sich mirgegenüber. Sie erklärte mir eindringlich, warum es besser für uns sei, das Geld anzunehmen. 2,2 Millionen Euro! Wir würden uns in Amerika ein Kind kaufen können. Warum sollten nur reiche Homosexuelle so etwas dürfen, nein, auch für uns liege das Glück endlich in greifbarer Nähe. Sie habe ein Recht auf ein Kind, sagte sie weinend. Und eine Adoption komme in unserem Alter fast nicht mehr in Frage. Sie sei so unglücklich. »Du hast ja gar keine Ahnung, wie unglücklich ich bin. Willst du mich unglücklich machen? Willst du das wirklich?«
Ich staunte über mich selbst, denn ich beharrte auf meinem Standpunkt. Pieternel konnte es nicht fassen. Sie stand auf und begann zu schreien. Sie richtete den Zeigefinger auf mich wie eine Pistole. Ich müsse das Geld annehmen, ich sei auch kein Unschuldsengel, im Grunde hätte ich doch die ganze Zeit von der Bestechung gewusst. Meine moralische Empörung sei kaum besonders glaubwürdig. Am Ende fielen auch Ausdrücke wie Schlappschwanz und Fettwanst.
Wieder stand die Flugzeugkatastrophe zwischen mir und einer Frau. Wochenlang stritten wir uns, so heftig, dass ich ins Gästezimmer zog, das einmal ein Kinderzimmer hatte werden sollen. Doch diesmal weigerte ich mich zu kapitulieren. Ich wollte das Geld auf keinen Fall.
»Dann lasse ich mich scheiden«, sagte Pieternel schließlich. »Denn ich will das Geld. Wir haben Gütergemeinschaft, also steht mir die Hälfte zu.«
So geschah es. Sie bekam ihre 1,1 Millionen Euro und verschwand wutschnaubend aus meinem Leben. Der Notar riet mir, die andere Hälfte einem guten Zweck zukommen zu lassen. Das habe ich getan. Mit dem Schweigegeld meiner Eltern wurde das Lieblingspumpwerk meiner Großmutter restauriert.
Und während De Cruquius restauriert wurde, ruinierte ich meinen Körper und mein Leben durch maßloses Essen. Ich aß mehr als je zuvor. Vor lauter Selbstmitleid fraß ich mir in weniger als einem Jahr weitere sechzig Kilo an. Meine Schüler gingen mit mir durch dick und dünn (entschuldige das alberne Wortspiel). Ich kann nicht viel, aber ich wage zu behaupten, dass ich ein guter Lehrer gewesen bin. Die Schüler mochten mich sehr, und ich sie. Als meine Kollegen mich längst fallen gelassen hatten, weil ich so unförmig wurde und mich immer öfter wegen Migräneanfällen krank meldete, hielten die Schüler zu mir und besuchten mich zu Hause. Aber auch die Treuesten, die noch bei mir klingelten, während ich mich mit Junkfood zu Hause verschanzte, gaben irgendwann auf.
Eine Zeitlang habe ich versucht, mich totzuessen. Das erschien mir als die beste Lösung, als Erlösung von der Migräne und von einem abscheulichen Körper, der nicht mehr mir selbst gehörte. Ich traf eine Abmachung mit mir: Wenn ich die Grenze von zweihundertfünfzig Kilo überschritt und nicht daran starb, würde ich mich wieder dem Leben zuwenden. Und so ungefähr ist es gekommen. Ich bin fast sechsundvierzig Jahre alt, und wundersamerweise schafft mein verfettetes Herz es immer noch, das Blut durch meine verengten Adern zu pumpen, Tag für Tag.
Das ist der Stand der Dinge, Gieles. Noch einmal: Ich verlange nicht von dir, diese Geschichte für dich zu behalten. Es steht dir frei, sie jedem zu erzählen.
28
»Hast du mich erschreckt!«, sagte Liedje, die unter der Dunstabzugshaube rauchte. Auch Gieles war erschrocken. Als er durch die Hintertür in die Küche schlüpfte, hatte er angenommen, es sei niemand
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