Gleitflug
ich aber nichts sagen. Es ist geheim.«
Er sagte das so bedeutungsvoll wie möglich.
»Das sind ja tolle Gänse«, meinte der Mann. »Sind sie schon bei dir zur Welt gekommen?«
Gieles rückte auf dem Leder so weit nach vorn, dass er fast abrutschte. »Zum Glück nicht! Ein Nachbar von uns hatte einen Brutapparat. Als die Küken geschlüpft sind, haben sie ihn sehr lange angeschaut. Mit einem Auge. Wenn sich eine Gans etwas ganz genau ansehen will, macht sie das nur mit einem Auge.«
Zur Demonstration kniff Gieles das rechte Auge zu. »Meine Gänse tun das auch. Zum Beispiel, wenn ich einen neuen Stock habe. Mit dem bringe ich ihnen bei, auf meine Kommandos zu hören. Also ich trainiere sie damit, aber ich schlage sie natürlich nicht. Jedenfalls starren sie mich dann mit dem einen schwarzen Auge an. Und diese Küken von unserem Nachbarn dachten, er wäre ihre Mutter. Sie liefen den ganzen Tag hinter ihm her, das machte ihn verrückt. Sie haben sogar bei ihm im Bett geschlafen. Sonst hätten sie immer gepiepst.«
Noch nie hatte jemand so über seine Gänsegeschichten gelacht. Deshalb legte er noch etwas zu. »Eine Gans kann dreißig Jahre alt werden.«
»Dreißig? Hahaha …« Der Mann wischte sich die Stirn mit einem Taschentuch. »Der arme Kerl. Dreißig Jahre mit Gänsen im Bett. O Gott! Was ist aus diesem Nachbarn geworden?«
»Keine Ahnung. Wir wohnen an der Startbahn, und er hatsein Land an den Flughafen verkauft. Und damals hab ich zwei Gänse von ihm bekommen. Mehr hat mein Vater nicht erlaubt. Das waren andere als die, die ich jetzt habe, aber seitdem kann ich ziemlich gut mit Gänsen umgehen.«
»Und ihr habt nicht verkauft?«, fragte der Mann, jetzt wieder ernst.
Gieles zuckte mit den Schultern und trank einen Schluck Cassis-Limonade. »Nein, mein Vater wollte bleiben. Wir waren schließlich zuerst da, meinte er. Meiner Mutter ist es eher egal. Sie ist doch nie zu Hause.«
Der Mann schwieg und biss sich auf die Unterlippe. Dann sagte er nachdenklich: »Ein sehr achtenswerter Standpunkt, der deines Vaters. Sich nicht kaufen lassen, zu keinem Preis.« Es hörte sich kämpferisch an, wie er das sagte.
Gieles überlegte, wie alt der Mann sein mochte. Er hatte keine Falten. Jede Furche war mit Butter aufgefüllt worden. Aber seine Haare sahen gut aus. Die goldbraunen Locken glänzten wie das Fell eines Plüschlöwen von der Schießbude.
»Deine Gänse«, begann sein Gegenüber, »wie heißen die eigentlich?«
Früher hatte nie jemand nach ihren Namen gefragt, und jetzt passierte es gleich zweimal kurz hintereinander.
»Ich hab ihnen keine Namen gegeben«, sagte Gieles. Lügen war diesmal nicht nötig. Diesen Mann brauchte er nicht zu beeindrucken.
»Mit Absicht nicht?«
»Nein, es hat sich einfach nicht ergeben. Obwohl Namen ja auch praktisch sind.«
»Sicher«, sagte der Mann bedächtig. »Was für Gänse waren es doch gleich? Tuff Buffs?«
»Tufted Buff«, korrigierte Gieles.
»Möglicherweise fühlen sie sich mit einem Namen noch eher angesprochen. Du hast doch gesagt, dass du sie trainierst?«
Gieles nickte. Vielleicht lag da das Problem. Sie gehorchten schlecht, weil sie keine Namen hatten. Am besten fragte er Christian Moullec danach, obwohl es für den französischen Ornithologen schwierig wäre, all seinen Gänsen Namen zu geben. Er hatte ja Hunderte.
»Aber das musst du natürlich selbst wissen. Ich will mich nicht einmischen.«
Super Waling! So heißt er!
Gieles blickte ihn mit einem Auge an, wie seine Gänse es taten. Er konnte sich nicht vorstellen, dass ein Erwachsener sich für ihn und sein Leben interessierte. Onkel Fred war fürsorglich, sein Vater fragte ihn nie nach irgendetwas, und seine Mutter nahm der Einfachheit halber an, dass es ihm gut ging. Dem Rest der Menschheit ging es nämlich sehr schlecht. Die Leute hatten AIDS , hungerten oder schlachteten sich gegenseitig ab. Aber dieser Zehntonner hier hörte ihm wirklich zu.
»Darf ich dir eine Führung durch De Cruquius anbieten?«, fragte Super Waling. »Für deinen Aufsatz?«, fügte er schnell hinzu.
Die Frage klang so aufrichtig, dass Gieles zu seinem Schreck ja sagte. Dann stand er auf. Er hatte jedes Gefühl für Zeit und Raum verloren.
»Wunderbar!«, erwiderte der Mann erfreut. »Sag mir einfach, wann du kannst. Wenn du magst, kann ich dir schon mal ein bisschen Material zum Lesen mitgeben.«
»Material?«, fragte Gieles etwas dämlich, während er beobachtete, wie der Mann von seinem Massagesessel
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