Gleitflug
aufzustehen versuchte. Eigentlich hätte er mindestens einen Ladekran dafür gebraucht.
»Ich habe da eine Geschichte«, keuchte er und stellte endlich die Füße auf den Boden, »über … die … Trockenlegung. Den ersten Teil.«
I DE & SOPHIA
Erster Teil
Sein Vater hatte ihn dorthin geschickt, wo es Arbeit gab, doch Ide Warrens folgte lieber der Spur seiner Träume. Deshalb nahm er Sophia mit, ohne Wissen ihrer Eltern. Kaum fünfzehn war sie, aber sie passte in seinen Traum. Besonders hübsch war Sophia nicht. Ihre Schneidezähne sahen aus wie Kreide, von der kleine Stückchen abgebröckelt waren, und ihr Gesicht war unebenmäßig. Es machte ihm nichts aus. Sophia war das großzügigste Geschöpf, dem er je begegnet war. Ihre Liebkosungen, ihr Lachen, ihr Humor, ihr Feuer: In allem war sie so freigebig, eine seltene Eigenschaft in ihrer Gegend.
Sie verließen Zeeland und waren zwei Wochen später am anderen Ende der Welt. Während der ganzen Reise klagte Sophia kein einziges Mal, obwohl ihre molligen Schenkel bald voll blauer Flecken waren vom Holpern der Planwagen, auf denen sie mitfahren durften. Und vom Wandern waren ihre Füße wund.
Vor einer Wirtschaft setzte sich Sophia auf den Gehweg. Neugierig blickte sie sich auf dem unbekannten Dorfplatz um. Hillegom. Von dieser Ortschaft hatte sie nie zuvor gehört. In einiger Entfernung stand eine Linde mit einer großen birnenförmigen Höhlung im Stamm. Sie lächelte, hohle Bäume hatten es ihr angetan. Also stand sie wieder auf, hinkte zu der Linde und zwängte sich samt Koffer in den Hohlraum. Von innen strich sie über die Rinde. Dann zog sie vorsichtig die Schuhe aus und stellte fest, dass die Wollstrümpfe an ihren Blasen festklebten. Sie streifte einen der Strümpfe herunter, riss ihn vom Fuß und betrachtete die blutige Blasenlandschaft. Ein scheußlicher Anblick. Am rechten Fuß war es noch schlimmer.
»Sophia!«, hörte sie Ide rufen. »Sophia!«
Durch das schlitzförmige obere Ende der Öffnung sah sie ihn aufgeregt hin und her laufen. Er hatte eine Unterkunft suchen wollen. Wieder rief er ihren Namen, aber sie wartete ab. Sie beobachtete ihn, vergaß ihre Füße und kostete ein Gefühl des Stolzes aus. Endlich gehörte Ide ihr allein. Sie legte die Hand auf das Umschlagtuch aus Brokat, das sie ihrer Mutter weggenommen hatte, genau wie die beiden goldenen Ringe. Wenn dieses Abenteuer überstanden war, das schwor sie sich, würde sie ihr die Sachen zurückgeben.
Als sich Ide vom Baum entfernte, pfiff sie. Er blickte sich um, suchte mit den Augen den Platz ab und folgte ihrem Pfeifen. Zuerst sah sie seine Stiefel vor der Öffnung, dann, als er in die Hocke ging, sein Gesicht. »Das sieht böse aus«, sagte er und betrachtete ihre Füße. Sie zog ihren Rock bis über die Knie hoch. Die roten Härchen auf ihren Beinen waren eine Spur dunkler als ihre Locken, aber heller als ihr Schamhaar. Jeden Fingerbreit ihres Körpers hatte Ide untersucht und geküsst.
»Ich brauche Jenever.« Sie zeigte mit dem Kinn auf die Gastwirtschaft. Ohne zu fragen, erhob sich Ide. Wenig später kam er mit einer Flasche wieder. Verwundert schaute er Sophia dabei zu, wie sie den Alkohol über ihre Füße goss.
»Von meinem Vater gelernt«, erklärte sie. Ihr Vater war ein fortschrittlicher Arzt. Die Aderlässe und Opiumtränke seiner Kollegen verabscheute er.
Schon seit zwanzig Jahren war Ides Mutter die Haushälterin der Arztfamilie. Sie behauptete, der Arzt habe mehr Verstand als der Bürgermeister, der Pfarrer und der Schulrektor zusammen. Aus der Art, wie sie das sagte, sprach ihre Verehrung. Ides Vater konnte den Arzt auf den Tod nicht ausstehen. Wenn er betrunken und übel gelaunt war, schlug er seine Frau, dann hatte er wohl einen Augenblick das Gefühl, mit dem Arzt abzurechnen. Ein angenehmes Gefühl. Aber sobald er wieder nüchtern war, tat es ihm leid.
Ide hasste die unbeherrschten Hände seines Vaters und die Blutergüsse im Gesicht seiner Mutter. Seine größte Angst war es immer gewesen, dass sie nicht mehr für den Arzt arbeiten durfte. Ihre Anstellung war seine einzige Verbindung zu Sophia.
Sophia riss einen Streifen Baumwolle von ihrem Unterrock und wand ihn sich um die Ferse. Sie goss noch einen Schuss von dem Schnaps darauf und nahm einen Schluck aus der Flasche. »Schmeckt nicht schlecht«, sagte sie und saugte an ihrer Zunge. Dann zog sie entschlossen die von kleinen Wunden übersäten Hände Ides in den hohlen Baum und säuberte sie mit dem
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