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Gleitflug

Gleitflug

Titel: Gleitflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Gine Goemans
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seinem Beispiel und begann seine schwarzen Fingernägel abzukauen. Ide dachte an die spitzen Zweige, mit denen Sophia unermüdlich ihrer beider Nägel sauber hielt.
    »Ich glaub meiner Mutter auch nicht«, murmelte der Junge. Er spuckte ein Stück Nagel aus. »Wir haben uns das nicht ausgedacht. Wir tun nur unsere Arbeit. Dafür wird er uns doch nicht bestrafen?!«
    »Aber nein.« Ide entdeckte eine Mücke auf seinem Unterarm und schlug sie tot. Ein kleiner Blutfleck blieb zurück. »Unsere größte Strafe sind die Mücken.«
    Der Junge nickte und zeigte ihm seine Stiche, als wären es Kriegsverwundungen. Er war davon übersät. »Mücken sind schrecklich. Und sie sind so nutzlos. Bienen machen Honig. Kühe kann man melken. Aber Mücken, mir fällt nichts ein, wofür die gut sein sollen.«
    Er schwatzte noch eine Weile weiter über Mücken und Gott. Stunden schienen zu vergehen, bevor sie aufbrachen. Die meisten Männer standen untätig zusammen. Ide schloss die Augen. Er wachte auf, als sich die Truppen wieder in Marsch setzten. Neben ihm saß der Junge und schlief, den Kopf zwischen den angezogenen Beinen, als hätte er einen Purzelbaum machen wollen, es sich aber im letzten Moment anders überlegt. Ide rüttelte ihn wach. Die Gefahr schien gebannt.
    »Die Belgier gehn weg!«, riefen die Männer im Takt ihrer Schritte. »Wir haben gesiegt!«
    Ide wartete, bis sich der Schluss des Zuges wieder näherte, und betrachtete die freudestrahlenden Gesichter. Etwas von der Begeisterung sprang auf ihn über. Sie waren in den Augen der anderen nichts wert und offensichtlich doch mächtig. Ihre Zahl verschaffte ihnen Respekt. Heute hatten sie das Erbärmliche ihres Daseins überwunden. Sie waren jemand. Zufrieden verteilten sie sich auf die Wirtschaften des Ortes.
    Ide atmete auf. Wenn man von dem erschlagenen Hund und zerstörtem Hausrat absah, hatte der Aufstand nicht zum Schlimmsten geführt. Er stand vor einer Wirtschaft, hörte dem Singen der Betrunkenen zu und sah plötzlich auf der anderen Seite des Platzes Dutzende makellose Uniformen und hohe schwarze Stiefel.
    »Die Armee«, sagte ein Mann, der aus der Kneipe kam und zum nächsten Baum ging.
    Die Soldaten waren bewaffnet. Auf einigen der Uniformen prangten Abzeichen, aber Ide kannte sich mit Rängen nicht aus.
    »Die können uns nichts!«, rief der Mann über die Schulter. Er stand breitbeinig vor dem Baum. Rings um seine Schuhe breitete sich eine Pfütze aus. »Vierzig Mann, wenn’s hoch kommt. Aus denen machen wir Hackfleisch!« Grinsend schüttelte er sein Geschlecht und schob es in die Hose zurück.
    »Kuck mal, die halbe Portion da, der Trompeter. Vor so was braucht man doch keine Angst haben. Dem steck ich eins zwei drei seine Tröte in den Hintern. Pä-pä-pää!« Er formte mit den Händen einen Trichter und brüllte herausfordernd. »Tu-tu-tuut!«
    Ide war froh, als der Mann in die Kneipe zurückging. Er wollte keinen Ärger.
    Plötzlich spürte er einen Stoß im Rücken. »Ide Warrens! Wo hast du gesteckt!«
    Sie klang beunruhigt, wütend, aber auch froh. Ein paarmal stieß sie ihm die Faust gegen die Brust und hängte sich dann an seinen Hals, um ihn zu küssen. Er beugte sich zu ihr hinunter. Sophia war warm und verschwitzt, und ihr Atem roch nach Schnaps. Gierig schob sie die Zunge in seinen Mund. In der Kneipe wurde gejohlt.
    Ide löste sich von Sophia, legte ihr dann den Arm um die Schulter und setzte sich in Bewegung. »Wir gehen zurück.«
    »Zurück? Ich bin gerade erst angekommen, ich bin nicht den ganzen verdammten Weg gelaufen, um gleich wieder …« Sie stockte. »Nach Hause« wollte sie anscheinend nicht sagen, Ide auch nicht. »Um gleich wieder zu gehen.«
    Sie zog wütend an seinem Arm, um ihn zum Stehen zu bringen.
    »Sie schicken uns die Armee auf den Hals. Gleich geschieht noch ein Unglück.«
    Neugierig betrachtete Sophia die Uniformierten. Dann machte sie sich von Ide los und blieb stehen. »Die anderen Frauen sind auch hier. Alle trinken auf das glückliche Ende.«
    »Alle haben schon genug getrunken.«
    »Ach komm, es ist doch nichts geschehen. Niemand wurde verletzt, nicht wahr?«
    »Sie haben einen Hund erschlagen. Mit einer Schaufel.«
    »Einen Hund? Was hatte das für einen Sinn?«
    Er wusste, er würde sie überzeugen. Gleich würde sie vergessen, dass sie hatte bleiben wollen, und nur noch zornig sein.
    »Keinen. Es hatte gar keinen Sinn. Sie haben es aus Langeweile getan.«
    »Abscheulich. Waren es die Belgier?«
    »Nein,

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