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Gleitflug

Gleitflug

Titel: Gleitflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Gine Goemans
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halblaut: »Unterfunktion der Schilddrüse, Störungen im Hypo … Hypothalamus, familiäre Häufung von Fettsucht, Wassereinlagerung bei verminderter Pumpfunktion des Herzens, Diabetes, Syndrom X.«
    Syndrom X?
    Das klang geheimnisvoll. Er legte sich aufs Bett. Die Kükenwatschelten durchs Zimmer. Sie waren gleich alt, aber das eine Gänschen blieb im Wachstum zurück. Vielleicht wuchs ja das andere zu schnell. Sie waren beide Weibchen, wie seine Tufted-Buff-Gänse. Onkel Fred war sehr geschickt in Geschlechtsbestimmung. Er umklammerte den Unterleib des Kükens ganz fest und drückte Daumen und Zeigefinger zwischen die Beinchen. Wenn dort nichts zum Vorschein kam, war es ein Weibchen. Onkel Fred nahm außerdem an, dass die zwei Neuankömmlinge aus demselben Nest stammten, wahrscheinlich waren es Schwestern.
    Die kleine Gans saß gern bei Gieles auf dem Schoß und konnte nur schlafen, wenn sie in der Pelzmütze neben seinem Kopf lag. Er hatte sie in der kurzen Zeit schon ins Herz geschlossen, mehr als die Gänse, die seit vier Jahren bei ihm lebten. Sie hielten wie die meisten Vögel einen gewissen Abstand. Diese war anders. So anhänglich wie ein junges Kätzchen. Manchmal schien sie zu schnurren, wenn er ihr mit dem Finger über den Kopf strich. Ihre große Schwester hatte für Zärtlichkeiten nichts übrig. Ihre Leidenschaft galt dem Fressen. Sie war eine Art Super Waling in Vogelgestalt. Weil sie so viel fraß, kackte sie auch ununterbrochen, aber nicht wie die kleine ins Gänseklo.
    Gieles starrte auf das Brett mit dem Plan. In zehn Wochen kam seine Mutter nach Hause. Ihre Abwesenheit verursachte einen bohrenden Schmerz, wie ein verletztes Nagelbett.
    Er las den Plan und wusste, dass er im Rückstand war. Der Befehl »Bleib« oder besser gesagt ihre Reaktion darauf war immer noch eine Katastrophe. Das Gleiche galt für »Flieg«. Sie kapierten es einfach nicht. Er hatte keine gute Methode gefunden, sie zum Losfliegen zu bringen. Und dann war da noch das Problem mit dem Graben. Sie mussten auf Befehl über den Graben fliegen. Wie sollte er ihnen das beibringen?
    Er schaute auf die Dachschräge, auf der noch die Umrisse von Tieren zu erahnen waren. Seine Mutter hatte die Schräge einmalblau gestrichen und Vögel darauf gemalt. Gieles hatte sie gebeten, auch einen Löwen an den Himmel zu malen. Einen Löwen mit Flügeln. Als er das Deckenbild später kindisch fand, strich sein Vater die Dachschräge wieder weiß. Manchmal schienen sich die alten Umrisse, die unter dem Weiß hervorschimmerten, zu bewegen. So ähnlich war es mit seiner Mutter, wenn er sie lange nicht sah. Dann blieb von ihr nicht viel mehr als ein Umriss, der sich bewegte.
    Die große Schwester hatte inzwischen mit ihrem gierigen Schnabel ein Sammelalbum So lernst du Vögel kennen aus dem Regal gezogen. Die Alben waren noch von seinem Opa. In jeder Packung Zigarettenpapier, die Opa kaufte, waren Vogelbilder, die er in ein Album einklebte. Er hatte unheimlich viel rauchen müssen, um alle Bände vollzubekommen. Die Vögel hatte er seinem Sohn vererbt, und Willem hatte sie Gieles geschenkt. Stundenlang hatte er sich die magischen Vogelbilder angeschaut. Die Gans zerrte an dem Album wie ein Raubtier, das seine Beute zerreißt.
    »Aus«, sagte Gieles.
    Wütend riss die Gans einen Fetzen Karton ab.
    »He! Aus!« Gieles rappelte sich hoch. Auf dem Nachttisch lag ein Tischtennisball. Er warf damit nach der Gans. Der Ball traf ihren Rücken und sprang durchs Zimmer. Während sie unbeirrt weiter an dem Umschlag riss, watschelte die kleine hinter dem Ball her. Als er liegen blieb, betrachtete sie ihn, ging um ihn herum, hob und senkte den Kopf und gluckste zufrieden. Kurz darauf tippte sie den Ball mit dem Schnabel an. Sie watschelte erneut hinterher und stieß ihn noch einmal an. Gieles und die große Gans beobachteten jede ihrer Bewegungen. Der Ball rollte schnell durchs Zimmer, die kleine Gans schnatterte aufgeregt.
    Gieles hob den Ball auf. Das Gänschen schaute ihn mit wachem Blick an. Es hielt den Kopf schief. Langsam malte ermit dem Ball Kreise in die Luft, und die kleine Gans folgte den Bewegungen mit dem Kopf. Die große hatte sich hingelegt. Plötzlich schmetterte er mit der flachen rechten Hand den Ball auf den Boden. Ein Aufschlag ohne Spin.
    Der Ball sprang, sprang, sprang, und auf einmal sauste das Kleine darauf zu. Es fing ihn mit dem Schnabel auf, ließ ihn fallen und fing ihn noch einmal. Sprachlos schaute Gieles zu. Dann rannte er nach

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