Gleitflug
Krankenhaus, hatte die Frau gesagt.
»Ich kenne keine Meike aus Zundert. Ich weiß nicht mal, wo das liegt.«
»Nordbrabant. Im westlichen Nordbrabant, glaube ich. Ist keine große Stadt … Wie dem auch sei, sie hat sich eine Träne aufs Gesicht tätowieren lassen.«
»Wovon redest du?«, fragte Gieles argwöhnisch.
»Nachdem sie von dir die E-Mail über die Steinigung eines Mädchens in Somalia bekommen hat.«
Gieles hatte das Gefühl, dass alles Blut aus seinem Kopf strömte.
»Ihre Eltern sind auch sehr erschrocken, als sie die Mail gelesen haben.«
Sie schwiegen beide, und nicht nur wegen einer startenden Boeing 747.
»Woher haben sie unsere Nummer?«, fragte Gieles.
Schwierige Gespräche waren nicht Willems Stärke.
»Sie haben eine Mail an deine Mutter geschickt.«
Gieles versuchte sich Gravitation s blasses Gesicht mit einer Träne darauf vorzustellen und überlegte, welche Farbe sie wohl hatte und wie groß sie sein mochte.
»Aber wieso eine Träne?«
»Tja. Ihr Vater sagt, sie würde in der letzten Zeit alles so schwer nehmen.«
Gieles kam sich verloren vor. Auf der Wiese sah er seine kleine Gans in der blauen Babywanne planschen. Sie genoss das Wasser. Ihre Schwester stand daneben und fraß. In der Ferne wurde wieder geschossen.
Eine Nachtigall sang in Willems Hosentasche. »Warte«, sagte er und holte das Handy heraus.
»Hundert Stare? Das war nicht abgesprochen! Wir hatten fünfzig gesagt!«, schnauzte er. »Nein, sofort aufhören. Ist mir egal, was die Direktion sagt. Das sind alles nur eingebildete Armleuchter.«
Fluchend beendete er das Gespräch, dann stand er auf. »Junge, ich finde es schrecklich, dass Ellen dir solche Mails schickt. Das hab ich ihr schon öfter gesagt. Und das werde ich ihr auch jetzt wieder sagen. In deinem Alter sollte man sich nicht mit solchen Dingen herumquälen. Als ich so alt war, hatte ich ein Luftgewehr und eine Angel, und damit hatte ich den ganzen Tag Spaß. Sorgen hatte ich keine.«
»Ich bin kein kleines Kind mehr«, sagte Gieles. Seine Stimme überschlug sich.
»Das weiß ich. Das weiß ich.«
Am Abend rief sie ihn an. Einfach so. Nach dem Abendessen. Onkel Fred hatte abgenommen und ihm dann das Telefon gereicht. Sehr leise hörte er: »Hi, Gieles.« Sie finde den Namen gut,flüsterte sie. »Besser als Captain Sully.« Sie sprach den Namen wie »Sülli« aus.
Sie hatte einen Brabanter Akzent und war schwer zu verstehen, es hörte sich an, als wäre sie gerade beim Zahnarzt gewesen und immer noch leicht betäubt. Vielleicht lag es auch an ihrem Zungenpiercing.
»Und du heißt Meike«, sagte er und ging hinaus, damit sein Vater und Onkel Fred ihn nicht hören konnten.
»Ja.«
»Mit so einem Namen hatte ich nicht gerechnet.«
Sie kicherte verlegen, und er konnte kaum ihr »Womit dann?« verstehen. Bestimmt war sie rot geworden, er spürte fast ein Glühen an der Wange, an die er das Telefon hielt. Die Rollen waren vertauscht. Im Internet war sie selbstsicherer gewesen als er. Sie sagte etwas Unverständliches.
»Was?«, fragte er. Er setzte sich auf das Elektromobil und nahm die kleine Gans auf den Schoß. Der gelbe Flaum machte weißen Federchen Platz. Sie holte auf.
»Ich werde nicht bald siebzehn«, sagte sie.
»Ah.«
»Ich bin vierzehn.«
Gieles lachte. »Ich auch. Ich bin auch vierzehn, aber in zwei Monaten werde ich fünfzehn.«
»Ja, ja«, kicherte sie.
»Und meine Gänse heißen nicht Asterix und Obelix.«
»So, wie denn?«
»Tufted und Bufted. Und ich arbeite auch nicht in einer Metzgerei.«
Jetzt bekam Meike einen Lachanfall. Es war ein liebes, hohes Lachen, das in ein glucksendes Wiehern überging, aber dann wurde sie vom Lärm eines Flugzeugs übertönt.
»Eine Frachtmaschine«, erklärte Gieles, sobald es wieder still war.
Sie rief etwas, das wie »Boah, nee!« und »Abartig« klang, er erklärte ihr genau die Lage der Piste im Verhältnis zum Haus und wie oft Flugzeuge landeten oder starteten, und zum Schluss machte er einen Witz.
Wieder dieses liebe Lachen.
Auch Gieles lachte, dann schwiegen sie beide.
Die kleine Gans schaute ihn mit einem ihrer schwarzen Augen an. Die Tätowierung fiel ihm ein.
»Hat es weh getan?«, fragte er zögernd. »Die Träne?«
»Nö, nicht besonders.«
Eine Boeing füllte das Schweigen.
»Meike?«
»Ja?«
»Tut mir leid wegen der Mail. Von meiner Mutter.«
Sie sprachen noch eine Weile, und als Gieles auflegte, war er erleichtert. Beide hatten sie alle Lügen gebeichtet, das heißt,
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