Glencoe - Historischer Roman
nahm er Rache. Ein vergessener Toter, so lehrte man die Kinder, war schlimmer als der große Mann von Ballachullish.
Ich bin auch schlimmer, dachte Ceana, und zu diesem Fest hat mich keiner geladen. Sie fror entsetzlich. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, das kostbare Fleisch den Wölfen zu lassen und ins Haus zu gehen. Es war ein helles, warmes Haus, das ihr Zuhause gewesen war, und die Magd würde sie sogleich in Decken wickeln und die Hände zusammenschlagen, weil sie so verfroren war. Sie hätte dem Lockruf vielleicht nachgegeben, hätte sie nicht Sandy Og gesehen, der John und Eiblin gute Nacht wünschte, indem er beide in die Arme schloss, der den Krüppel und Gormals Jungen zu sich rief, das wilde Wickelkind einfing und dann mit einem Lachen zur Campbell ging. Noch nie hatte Ceana Sandy Og auf solchem Fest lachen hören.
Die Lady trat neben die Campbell, am Arm ihren Korb voll Kerzen, die sie aus dem frischen Talg gegossen hatte. Alles riecht nach Blut, alles riecht nach Fett von Geschlachtetem. Sandy Og, dermit dem Wickelkind herumalberte, betrug sich, als sei seine Mutter nicht da, und dafür liebte ihn Ceana. Du warst schon immer blindlings ungezogen, weil du nicht anders sein kannst, als du bist. Die Campbell dagegen reckte sich und nahm eine Kerze aus dem Korb. Wer war der denn gestorben? Die Lady sagte etwas, nickte und ging weiter, und Sandy Og drehte sich mit dem Kind in den Armen zu der Campbell um. Nicht ohne Grazie ging er in die Hocke, blies ihr Haar aus dem Gesicht und küsste sie auf den Mund.
Ceana stand auf.
Die Lady verteilte weitere Kerzen an die Eheleute von Inverrigan und an Big Henderson, der das Licht für Tam an sein Herz drückte, Tam, der den MacIain um Ceanas Hand hatte bitten wollen. »Spart eine für mich!«, rief sie über die Wiese, auf der Männer, Frauen und Kinder durcheinanderwimmelten. Wie blind lief Ceana los, streckte im Sprung den Arm und langte in den Korb. »Ich brauche auch ein Licht für mein Kammerfenster. Um meinem Vater den Weg nach Glencoe zu leuchten.«
So schnell war die Wiese vor dem Haus Carnoch noch nie in Stille verfallen. Ceana erstarrte, fühlte die Blicke im Rücken, hörte nur sich und die Lady atmen und dann Schritte über den nicht ganz trockenen Boden stampfen. »Hier bin ich doch!«, rief der Stampfende und stolperte. Seine Stimme war undeutlich, verwaschen. »Dein Vater ist hier.« Der MacIain hatte zu viel getrunken. Er trank auf Festen immer viel, war aber immer ein Mann wie ein Fass gewesen, der ganze Kannen vertrug, ohne aus sich einen Narren zu machen. Heute hatte er das Maß verloren. »Meine Ceana, mein Kälbchen.« Er klang erbärmlicher als ein Narr.
Ceana hob das Talglicht in die Höhe und vollführte einen kleinen Knicks. »Ja, Ihr seid hier, Vater MacIain. Es wäre ja auch kein Samhuinn, wenn Ihr’s nicht wärt. Mein Blutsvater aber braucht viel Licht, um zurückzufinden, und ich will’s ihmgeben, damit er mir nicht zürnt und sich womöglich an mir rächt.« Sie tänzelte zur Seite, wo eine Gruppe Frauen schon Kerzen entzündet hatte, und hielt die ihre mit dem Docht in eine Flamme. Leichenkerze, die stinkt wie der Tod! Talgtropfen versengten ihr den Handrücken. »Für Calum, den Uralten!«, schrie sie. »Oder will mir einer von euch erzählen, dass der nicht mein Vater ist.«
»Tal im Schatten« sagte mancher zu Glencoe oder »Tal von Finns Hunden«. Ceana aber wusste, dass Glencoe »Tal des Schweigens« hätte heißen sollen, denn in Glencoe schwieg alles, die Berge, das Gras, selbst die kleinen Kinder und der Wind der Nacht. Nur nicht das Messer in Ceana.
Und Sandy Og.
Mich soll nie einer von euch schweigenden Heuchlern fragen, warum ich diesen will und sonst keinen. Weil er, so wenig er spricht, nicht schweigen kann. Weil es ein Segen ist, dass einer Nein sagt, wenn Falsches zum Himmel schweigt.
»Nein«, sagte Sandy Og. Er gab das Kind der Campbell, schob ein paar Schweiger beiseite und kam zu ihr, nahm ihr das Licht weg und schloss sie endlich in die Arme. »Nein, ich kann’s dir nicht erzählen. Mein Gedächtnis gibt nicht mehr her als Fetzen. Aber ich weiß einen, der es kann. Nach Samhuinn gehe ich mit dir zu ihm, wenn es noch nicht schneit.«
Ceana ließ sich fallen. Sie war so erschöpft, dass sie kaum hörte, was er sagte, Kopf und Brust schmerzten, und sie schwitzte und zitterte zugleich.
»Komm, a graidh . Du bleibst heute Nacht bei uns. Die Kerze für Calum stellen wir in unser Fenster.«
Ceana lag drei
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