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Glencoe - Historischer Roman

Titel: Glencoe - Historischer Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Lyne
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über dem Schnee aufragte, lag ihr Geheimnis, der Ort, von dem sie kam. Dafür zwang sie sich weiter. Hinunter nach Glencoe sah sie kein einziges Mal.
    Trotz der Erschöpfung erkannte sie das schmale Plateau, den steilen Hang und den Kamm. Das Ziel schien zum Greifen nah, aber so ging es in den Bergen oft, man glaubte, man sei so gut wie angekommen, die Waden begannen zu erschlaffen, hatte aber den ärgsten Teil noch vor sich. Während man sich hinaufkämpfte, nahm man an, keinen Schritt voranzukommen, und doch schrumpfte das Stück Grün und Grau vor dem leeren Himmel zusammen, und auf einmal ging es schnell. Ehe Ceana bereit war, reichte ihr Sandy Og die Hände und half ihr auf den Kamm. Sie holte schmerzhaft Atem und sah unter sich in einem Bett aus Nebeln das Tal der Gefangenschaft, Coire Gabhail. Es war enger, als sie es sich vorgestellt hatte, besaß aber einen schmalen Wasserlauf, und das Haus war unerwartet groß. All das rief keine Erinnerung wach, war ihr völlig fremd, und doch wusste sie, dass es ihr nicht fremd sein sollte.
    »Gormal!«, brüllte Sandy Og, die Hände um die Lippen schürzend, und von den Hängen brüllte das Echo zurück. SeineSchwester kam mit einem Bündel Reiser im Arm um das Haus herum und winkte.
    Ben hatte die Hände zu Fäusten geballt und presste sie an seine Wangen. »Ich erzähl’s, wenn Ihr’s wollt«, sagte er. »Aber mir fällt’s nicht leicht.«
    Sie hatten das Bündel aufgeschnürt, Gormal hatte die Gaben verstaut und für Ceana Ziegenmilch gewärmt. Der MacIain, so erkannte Ceana, war wahrlich mild mit seiner Tochter verfahren, er hatte sie ihre Ziege mitnehmen lassen und Ben sogar seine Waffen, Messer und Axt. Das Haus war ausgezeichnet gebaut, es musste einmal schön gewesen sein, und selbst das Mobiliar, Tisch und Stühle, die Gormal ihnen anbot, waren kaum verrottet. Es würde hart werden, hier zu überwintern. Wenn Sandy Og nichts bringen und Ben nichts erlegen konnte, würden die beiden zwar Hunger leiden, aber sie würden nicht sterben und wären nicht allein.
    »Bitte erzähl’s«, sagte Sandy Og. »Und bitte, sprich mich nicht an wie deinen Herrn. Ich bin dein Schwager. Ich glaub, als Kind hab ich dich für meinen Bruder gehalten.«
    Ben konnte wegen seiner Entstellung wohl nicht lächeln, doch eine Regung flog über seine Lippen. »Ja. Ja, das wohl. Allein konnt ich nirgendwo hingehn, immer einen Dreikäsehoch im Schlepp.«
    Statt seiner lächelte Sandy Og.
    »Ich brech deinem Vater mein Versprechen«, sagte Ben. »Du magst denken: Was bedeutet das noch, nach dem, was der Ben mit meiner Schwester getan hat? Aber dein Vater ist der MacIain. Ich hab mal geglaubt: Wenn nicht mehr gilt, was der MacIain sagt, stürzen die Berge ins Tal.«
    »Ich glaube das auch«, erwiderte Sandy Og, ohne zu zögern. »Was der MacIain sagt, gilt, damit die Berge nicht einstürzen. Wir müssen daran nicht rütteln, nur den Bergen ein zugedrücktes Auge abhandeln.«
    Gormal entkorkte eine der Flaschen, die Sandy Og mitgebracht hatte, trank, reichte sie Ceana und dann Ben. Das Lebenswasser war scharf und rein und wärmte mehr als die Milch. Zuletzt gab Gormal die Flasche Sandy Og, der den Kopf schüttelte. »Das ist für euch.«
    »Du kannst es auch brauchen«, sagte Gormal, »bei dem, was du hören wirst.«
    »Ich hab keine Angst«, sagte Sandy Og und hob verdutzt die Brauen. Vermutlich hatte er diesen Satz nie zuvor von sich gehört.
    Ceana aber hatte Angst. Ihr war die Kehle so eng, dass sie immerfort ihren Hals betasten musste.
    Ben trank noch einen Schluck, legte die Flasche beiseite und ballte wieder die Fäuste an den Wangen. »Sie …«, sagte er und wies auf Ceana, »sie ist hier geboren. In der Kammer drüben. Ihre Schwester auch. Beide am Leben, nur für die Mutter war’s zu viel. Die Hebamme hat’s dem MacIain gemeldet, und der hat mich mit einem Geschenk geschickt, wie’s sich ziemt. Zwei Ziegen. Weil doch keine Mutter da war. Der Bruder vom MacIain war nicht bei sich. Dem hat der Schmerz um sein Weib den Verstand gefressen.«
    »Sein Bruder?« Sandy Og und Ceana platzten zu gleicher Zeit heraus, seine Stimme so erstickt wie ihre.
    »Milchbruder«, murmelte Gormal, nahm Ben die Flasche weg und trank. »Das ist so, hat Mairi gesagt. Wo eine Zwillingsgeburt in der Familie ist, kommt irgendwann wieder eine.«
    Von einer Zwillingsgeburt überlebt nicht mehr als eines, hörte Ceana Gormals Stimme wie ein Echo der gesprochenen Worte. Und wenn doch, dürftest du’s nicht

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