Glencoe - Historischer Roman
ängstigte.«
»Aber er kann sie doch nicht finden! Sie ist seit Wochen fort. Sie kann schon meilenweit sein.« Sarah schluckte. »Oder tot.«
»Ohne Frage, mein Mädchen mit dem Kälbchen. Aber er ist kein Idiot. Wenn er so losstürmt, wird etwas in ihm wissen, wo er sich hinzuwenden hat.«
Verblüfft sah Sarah den graubärtigen Clanchief an. Sie war geradezu lächerlich erleichtert darüber, mit ihm sprechen zu können. »Woher wisst Ihr das? Das von Sandy Og?«
»Ach«, tat Lochiel ihre Bewunderung ab. »Ich lese, was er denkt. So was lernt man im Krieg, wenn man neben einem Mann schläft und isst und pinkelt, während die Angst wächst und die Schale dünn wird. Ich kann sie alle lesen: deinen Sandy Og, meinen Freund Alasdair, den alten Ranald, Gott sei seiner Seele gnädig. Und sie können mich auch lesen, wenn auch jeder von uns ein paar Geheimnisse behält. So hätte ich keinesfalls gedacht, dass mein junger Freund derart an seiner Schwester hängt. Und an einem Lumpen namens Ben.«
Sarah hatte es auch nicht gedacht. Jetzt aber fand sie es nicht verwunderlich. Ben ist doch nicht stumm, hatte Sandy Og vor Jahren mit der Spur eines Lächelns gesagt, dabei hatte Ben Sandy Og zuweilen in geradezu ungehöriger Art gemieden.
Und Gormal? Sarah sah die Schwägerin vor sich und entdeckte nicht ohne Erstaunen, dass sie sie gemocht hatte. Gormal, die sich für ihren Mann den Kopf schor, Gormal, die bei ihr saß, als Duncan geboren war, Gormal, die mit Ben den schweren Kessel trug. Es machte sie traurig, dass sie so wenig an Gormal gedacht hatte und nichts von ihr wusste, dass sie Sandy Og nicht gefragt hatte, wie es gewesen war, mit ihr heranzuwachsen.
Sie sprach mit Lochiel auch über den Eid, und er beruhigte sie. Gewiss werde Sandy Og zur Vernunft kommen und mit seinem Vater reden, sobald es nötig sei. »Lass ihm ein Weilchen seinen Zorn. Der steht ihm ja zu, jetzt wo er zu erwachsen ist, ihn an totem Gelump auszutoben. Und Zorn ist Balsam gegen Schmerz. Klingt der Schmerz ab, legt sich der Zorn, und dein Liebster benutzt das Ding auf seinem Hals wieder zum Denken.«
»Ich möchte ihn ja gerne lassen«, sagte Sarah. »Aber haben wir Zeit dazu?«
»Ich fürchte, die müssen wir haben«, erwiderte Lochiel seufzend. »Ohne die Erlaubnis des Königs zieht kein Chief den Eid in Erwägung. Da können dein Sandy Og und ich mit Menschenzungen und du mit deiner Engelszunge schwätzen.«
»Und wenn die Erlaubnis nicht kommt? Mein Herr Lochiel, ist es nicht möglich, dass der König gar keine Erlaubnis schickt?«
»Möglich ist alles, sosehr es mir missfällt, das auszusprechen. Dein Mann sagt dazu: ›Es kommt kein König nach Lochaber.‹«
»Und was tun wir – wenn keiner kommt?«
»Dann wird uns der junge Feuerkopf noch einmal vorhaltenmüssen, was er uns heute vorgehalten hat: Mit solchem Gesetz wisch ich mir den Hintern, und für solches Gesetz geb ich keins von meinen Kindern. Immerhin wissen wir jetzt mit Gewissheit, dass er dazu taugt.« In Lochiels Stimme schwang Bedauern, aber er lächelte auch. »Ich muss mich auf den Weg machen, Schönchen, wir sehen uns wieder, wenn ich Neues vom König weiß. Versuch, dich nicht zu sehr zu sorgen. Sei auch ein wenig glücklich, denn sonst sind ja die ganzen Sorgen und die Angst vor dem Tod nichts wert.«
Es erstaunte Sarah, wie leicht es ihr fiel, sich an diesen Rat zu halten. Sie hatte zu tun, bis Sandy Og zurückkam, räumte eine Kammer ihres Hauses für Angus frei und begann, sich für das Schlachten zu Samhuinn zu rüsten. Begräbnisse fanden statt. Nicht nur Ranald, sondern auch der uralte Calum war gestorben. Der MacIain, der sonst überall zugleich war, ließ sich kaum blicken, und über dem Tal lastete ein harrendes Schweigen, aber Sarah war auch ein wenig glücklich. Eines Abends war Sandy Og wieder da, nahm sie in die Arme und sagte ihr, dass er Ben und Gormal gefunden habe. Mehr könne er vorerst nicht davon sprechen, sondern müsse nachdenken. So wie er über den Fluss nachdachte, über Ceana und seine Eltern und über den Eid.
Sarah drängte ihn nicht. Er war ganz bei ihr, und sie hatte keinen Grund, ihn zu drängen. Nach einigen Nächten versuchte er, sie zu lieben, und als es misslang, ließ er sie trotzdem nicht los. Wenn es nicht heil wird, mein Herz, versprach sie ihm stumm, so wie dein Ohr nicht mehr heilt, wäre ich immer noch glücklich und sorgte mich und hätte Angst vor dem Tod. Es wurde aber heil. Es dauerte nur ein paar Nächte, und noch
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