Glencoe - Historischer Roman
singen konnte: »Kleine rote Lerche mit den goldenen Flügeln.« Deine kleine rote Lerche, das war ich.
Sie hätte John fragen können, was kümmerte es sie, wenn er Eiblin aus dem Haus jagte? Sie tat es nicht, weil John als Einziger von ihnen allen Mitleid in ihr weckte. John hatte an nichts Schuld, glaubte noch immer, sein Vater sei gänzlich unfehlbar, und er wünschte sich nichts so sehr, als so zu sein wie er. Ceana wollte Sandy Og fragen, mit ihm in ihrer Glocke sein. Die können Sandy Og nicht totschlagen, denn dann habe ich keinen mehr. Wenn sie erst wieder zusammen waren, würden sie sich an das erinnern, was ihnen geraubt worden war.
Und dann kam Sandy Og zurück – mit der Campbell in den Armen.
Die Wochen, die Ceana seither durchlebt hatte, ertrug sie nicht einmal in der Erinnerung. Von Big Hendersons Pfeifen geleitet hatten die Männer die Toten zur Eilean Munde gerudert, und Ranalds Töchter waren gegangen, um das Lied zu singen. Hätte ich gehen müssen, um es meinem Vater zu singen, einem Umnachteten, vor dem ich mich gefürchtet habe? Sandy Og hatte dem MacIain die Stirn geboten, und sie hätte sich neben ihn stellen und an seiner Seite Schmerz und Zorn herausbrüllen wollen. Sobald aber Sandy Og sich abwandte und seinen Vater stehen ließ, überfiel sie die alte Sehnsucht, zum MacIain zu laufen und sich an ihn zu schmiegen. Ich bin Euer kleines Mädchen. Ihr habt doch noch mich.
Danach geschah nichts mehr. Es war, als hielte die Zeit still. Sie bekam zu essen, bekam Arbeit zugeteilt, und die Ladyknuffte sie, wenn sie sich nicht sputete, doch ansonsten schien ein jeder in sich selbst vergraben. Ewen Cameron von Lochiel war gekommen und wieder abgereist, hatte mit den Männern über den Eid gesprochen, den der schamlose Willie von den Chiefs Lochabers forderte, über Truppen aus Frankreich und Geld für Waffen, das der Heilige Vater aus Rom schicken wollte – wahrlich, als gäbe es eine Welt hinter den Bergen von Glencoe. Aber konnte es denn eine geben, einen anderen Schmerz als den in Ceanas Brust?
Die Leute um sie betrugen sich, als gäbe es keine und als sei ihre enge Welt heil. Männer schlachteten Vieh, Frauen lösten Fleisch von den Knochen, und Kinder schleppten alle Knochen zusammen und warfen sie auf einen Haufen. Es war sehr kalt, noch kälter als sonst zu Samhuinn. Die Lady hatte angeordnet, mehr zu schlachten und nicht am Salz zu sparen, damit ein jeder im Tal unversehrt durch den Winter käme. »Unsere Männer haben gut für uns gesorgt, wir haben nichts zu fürchten«, hatte sie gesagt. Das übliche Geschwätz. Morgen würde es Tanz geben, und der Berg von Knochen würde angesteckt, auf dass jede Hausfrau sich in den Flammen einen Scheit entzündete und ihn heim in den eigenen Herd trug.
Es war seltsam, das alles in jeder Einzelheit zu kennen, es die Übrigen tun zu sehen und zu wissen: Ich tue nie mehr mit. Nicht weit vom Knochenberg entfernt hockte die Campbell, zerhackte einen Batzen aus einem Rinderschenkel und sang Glencoes Lied. Weiber, die Kinder trugen, blieben bei ihr stehen, schwatzten und lachten, bis die Campbell mitlachte. Ceana aber saß hinter einem Schober verborgen. Auf ihrer Hackbank lag ein geköpftes, gehäutetes Lamm, das sie ausnehmen sollte, aber sie rührte es nicht an.
Bei jedem Fass, das mit Lagen aus Fleisch und Salz gestopft war, brach irgendwer in Jubel aus, weil jedes Fass ein wenig Sicherheit bedeutete, einen Ring Fett um den Bauch, der vor dem Erfrieren schützte. Hatte der immer gleiche Brauch desFleischsalzens, des Sparens für den Winter, einst auch Ceana beschützt? Je weiter der Tag voranschritt, desto langsamer ging es mit der Arbeit voran, und als es dämmerte, kamen die Männer vom Schlachtplatz, rollten johlend die gefüllten Fässer heim und brachten dafür Bier und Wein. Man trank noch einen Becher zusammen, kostete die frische Blutsuppe, und dann kehrte jede Familie in ihr Haus zurück, weil für das morgige Fest noch Gäste geladen und Kerzen ins Fenster gestellt werden mussten. Die Gäste kamen von weither und nur einmal im Jahr. Die Toten.
Wer einen Toten zum Fest zu bitten hatte, stellte eine Kerze in einen Windschutz und den Schutz vor ein Fenster, das er in dieser Nacht nicht verrammeln durfte. Fanden die Toten ihren Weg derart beleuchtet, so betrugen sie sich gnädig und trieben mit den Lebenden nur Schabernack. Sah sich aber einer vergessen, so wurde er tückisch, und wenn es ihm gelang, ungeladen auf das Fest zu gelangen,
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