Glennkill: Ein Schafskrimmi
gerade unauffällig zwischen die anderen Schafe schlüpfen, als eine brüchige Stimme aus dem dunkelsten Winkel des Heuschuppens klang. Eine Stimme, morsch wie ein angeschwemmter Ast.
»Haben ist schlecht«, sagte die Stimme, »Dinge haben ist schlecht.« Alle drehten ihre Nasen zu Willow, die im Schatten hinter der leeren Futterraufe stand. Ihre alten Augen glitzerten wie zwei Tauperlen. Heides Kopf sank in ungeahnte Tiefen.
»Mama!«, murmelte sie.
Normalerweise halten Mutterschafe und Lämmer zusammen wie Sandboden und Hafergras. Ein Mutterschaf, das in aller Öffentlichkeit den eigenen Nachwuchs tadelt, ist etwas Unerhörtes. Aber Willow hatte nur deshalb bisher nichts gegen Heide gesagt, weil sie überhaupt nicht sprach. Zumindest behaupteten das die gewitzteren Schafe. Willow war das zweitschweigsamste Schaf der Herde. Das letzte Mal hatte sie kurz nach Heides Geburt gesprochen, eine nebensächliche und unverhältnismäßig pessimistische Bemerkung über das Wetter. Kein Schaf war traurig darüber, dass Willow nicht zu den gesprächigen Schafen gehörte. Es hieß, sie habe in ihrer Jugend ein ganzes Beet Sauerampfer abgegrast. Anders war ihre notorisch schlechte Laune nicht zu erklären. Aber diesmal hatte sie nicht übertrieben.
»Es ist beschämend«, sagte Cloud.
»Es ist skandalös«, sagte Zora und rupfte gelassen einen einzelnen Heuhalm aus der leeren Futterraufe.
»Es ist würdelos«, sagte Lane.
»Es ist dumm«, sagte Maude.
»Es ist menschlich«, sagte Ritchfield, der wieder sein strenges Leitwiddergesicht trug. Damit war alles gesagt. Heide sah aus, als würde sie sich jeden Moment in ein sehr kleines, geruchloses Tier verwandeln.
Miss Maple stellte neugierig die Ohren auf.
»Was ist das eigentlich für ein Ding?«, fragte sie.
»Es ist …« Heide hielt inne. Sie hatte »schön« sagen wollen, aber langsam wurde ihr klar, wie unpassend es war, so über Dinge zu sprechen. Sie überlegte, was es sonst noch Gutes über das Ding zu sagen gab. »Es hat kein Ende.«
»Alles hat ein Ende!«, seufzte Sara.
»Wenn etwas kein Ende hätte, gäbe es nichts anderes, kein Schaf auf der ganzen Welt«, sagte Zora, die sich auf ihrem Felsen oft mit solchen Fragen beschäftigte.
Die Schafe sahen sich melancholisch an.
Aber Heide blieb trotzig. »Es sind zwei Zeichen drauf, Zeichen wie in den Büchern. Vielleicht ist es ja kein Ding, sondern eine Geschichte. Und dann ist es ein bisschen wie eine Kette, wie die Kette von Tessy, nur kürzer und ohne Ende, man kann es stundenlang ansehen und sieht kein Ende.«
»Und du hast es stundenlang angestarrt«, blökte Maude. »Deine Nase riecht schon nach dem Menschending. Ich habe es gleich gerochen.«
Heide gestand alles. Sie hatte das Ding kurz nach Georges Tod auf der Weide gefunden und sich von ihm verzaubern lassen. Sie hatte einen Stein daraufgerollt, um es zu beschützen. Erst heute hatte sie es zwischen ihre Lippen genommen und unter dem Dolm versteckt, während Ritchfield die Schafe zählte. Sie bereute. Sie wollte das Ding nie wieder sehen.
Die Schafe beschlossen, sofort eine Expedition zum Dolm zu schicken, um das Ding ein für alle Mal aus ihrem Leben zu verbannen. Sie würden es lehren, wo sein Platz war: in der Dingwelt, auf dem Boden, fern von allen anständigen Schafen. Die Expedition war fraglos eine ehrenvolle Angelegenheit. Sie überlegten, wer mitgehen sollte. Cloud hatte plötzlich ihr altes Gelenkleiden, Sara musste ihr Lamm säugen, und Lane bekam einen Niesanfall. Es stellte sich überraschend heraus, dass Mopple nachtblind war.
Alle Schafe hatten Angst, nachts zum Dolmengrab zu gehen, kurz nachdem dort ein tanzender Wolfsgeist gesichtet worden war. Zuletzt bestand die Expedition aus Sir Ritchfield, Othello, Miss Maple, die ganz offensichtlich neugierig auf das Ding war, Maude, der nie rechtzeitig eine Ausrede einfiel, und Zora, die zu stolz war, um sich eine Ausrede auszudenken. Außerdem musste Mopple mit. Es half ihm nichts, dass er im Schuppen gegen einen Pfosten rannte, um die anderen von seiner Nachtblindheit zu überzeugen. Mopple war das Gedächtnisschaf. Mopple musste mit, wenn mit verräterischen Dingen kurzer Prozess gemacht wurde.
Draußen erwartete sie eine freundliche, warme Mondnacht. Man konnte vom Schäferwagen bis zu den Klippen sehen, dafür war die Witterung von den würzigen Nachtgerüchen getrübt. Angeführt von Ritchfield trabten sie zum Dolm. Maude hielt Wache, um eventuell auftauchende Wolfsgeister mit ihrer
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