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Glennkill: Ein Schafskrimmi

Glennkill: Ein Schafskrimmi

Titel: Glennkill: Ein Schafskrimmi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Swann
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waren geflohen, mit klopfendem Herzen, sie hatten gezittert, sie hatten gehofft. Jetzt hatten sie eigentlich hauptsächlich Hunger. Es war ein Glück, dass die Pamela-Geschichten nicht so gewesen waren wie Melmoths Geschichte, sonst hätten sie wahrscheinlich einen mageren Haufen abgegeben. Wolfsgeist hin oder her – die Schafe begannen, mit gutem Appetit zu grasen. Bei der Arbeit, mit mahlenden Kiefern und rupfenden Lippen, Nüstern und Gedanken tief ins Gras versenkt, verflog ihre Spannung wie Nebel.
     
    *
    Doch dann bewegte sich etwas in Clouds Wolle. Das Lamm schlüpfte heraus. Seine Beine zitterten, aber es machte ein entschlossenes Gesicht. Es sah sich auf der Weide um. Melmoth stand nur wenige Meter von ihm entfernt, als hätte er es erwartet.
    Seltsamerweise machte ihm das keine Angst, sondern Mut. Die beiden sahen sich an.
    »Sie sagen, dass du der Wolfsgeist bist«, sagte das Lamm, noch etwas zögernd.
    »Ich bin Melmoth«, sagte Melmoth.
    »Dann gibt es keinen Wolfsgeist?«, fragte das Lamm mit großen Augen. Melmoth senkte sein zottiges, graues Gesicht zu dem Lamm herunter. Seine Mundwinkel kräuselten sich wie Lefzen. Die Krähe auf seinem Rücken keckerte spöttisch.
    »Wenn du ihn aber gesehen hast, mit deinen eigenen runden Augen, kleiner Graser?«
    »Ich habe ihn gesehen«, sagte das Lamm ernsthaft. »Er war nicht wie du. Er war schrecklich.«
    Melmoth schnaubte belustigt, aber bevor das Lamm anfangen konnte, sich albern vorzukommen, wurde er wieder ernst.
    »Hör zu, kleiner Graser, hör genau zu, mit diesen schön geformten Ohren, mit den Augen, mit den Hörnern, die noch nicht gewachsen sind, mit der Nase und mit Kopf und Herz.«
    Das Lamm sperrte sogar den Mund auf, um noch besser zuhören zu können.
    »Wenn du einen Wolfsgeist gesehen hast«, sagte Melmoth, »dann hast du ihn gesehen. Ich war in dieser Nacht bei George. Aber wer will sagen, dass nur ich da war? Es war ein besonderer Hirte, der da lag, im Fell der Dunkelheit. Er hat viele Welten durchwandert, er war in vielen Welten zu Gast. Jetzt tanzen die Bleichen im Dorf, und die Rote ist gekommen. Die schwarzen Schweiger klopfen vergeblich am Schäferwagen, und die Aasfresser fallen vom Himmel. Wer will sagen, wer noch alles um seinen toten Leib getanzt ist? Nicht du! Nicht ich!«
    »Cordelia meint, es ist ein Trick«, sagte das Lamm. »Cordelia meint, es gibt keine Geister. Aber sie glaubt selbst nicht daran – Angst hat sie auch.«
    »Es ist kein Trick«, sagte Melmoth. »Glaube Melmoth, der auch in vielen Welten gegrast hat. Es gibt Geister auf der Welt. Wasserlochschrecken und Heckenkriecher, Meerfinger und Heugespenster sind noch die harmlosesten. Aber das weinende Lamm … Wenn das weinende Lamm im Nebel schreit, kann kein Mutterschaf widerstehen. Sie müssen zu ihm, verstehst du, es zieht sie an Fäden wie Spinnen. Und keines kommt zurück.«
    Das Lamm schauderte. »Keines?«
    »Keines. Und hüte deine Augen vor der Roten Ziege. Wenn ein Schaf die Rote Ziege sieht, wird bald ein Widder seiner Herde im Duell sterben, und nicht einmal der Wind kann etwas dagegen tun. Die Rote Ziege sollte ein Schaf besser nicht sehen. Doch den einsamen Dunst …« Melmoth verengte die Nüstern. »… den einsamen Dunst, den Nasenverführer, sollte ein Schaf besser nicht riechen, kleiner Graser. Ein himmlischer Geruch, wie alle guten Dinge auf einmal, Kräuter und Milch und Sicherheit, der Duft der Aue im Herbst, der Geruch des Sieges nach dem Duell, es zieht und lockt und flüstert mit samtiger Stimme. Aber nur ein Schaf der Herde kann es riechen. Nur ein einziges. Das folgt ihm dann, über Stock und Stein, weg von der Herde ohne einen Blick zurück, ins Moor, bis zu einem schwarzen See im Sumpf. Einem bösen kleinen Auge von einem See, und es starrt dich an …«
    »Und dann?«, flüsterte das Lamm heiser.
    »Dann?« Melmoth rollte die Augen. »Nichts dann. Weiter als bis zu dem bösen Auge ist noch niemand gekommen – jedenfalls niemand, der dann wieder heil davongetrabt ist. Entkommen ist dem einsamen Dunst nur ein einziges Schaf.«
    Die Krähe auf Melmoths Rücken drehte den Kopf, und ihre kleinen blanken Augen starrten das Lamm ausdruckslos an.
    »Du?«, flüsterte das Lamm.
    »Ich?« Melmoth zwinkerte. »Wichtig ist die Geschichte, nicht wer sie erzählt. Höre auf die Geschichten, lausche sie aus, horche sie auf, sammle sie von der Wiese wie Butterblumen. Es gibt die Heulenden Hütehunde, Thul den Geruchlosen, das Vampirschaf, den kopflosen

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