Glennkill: Ein Schafskrimmi
herab.
*
Maple schreckte aus ihrem Traum auf, zurück in die dunkle Hitze des Heuschuppens. Der Geruch einer Schafherde! Fremde Schafe, ganz nah! Erst einen Moment später fiel ihr ein, dass jetzt Melmoth bei ihnen war. Melmoth, der wie eine Herde halber Schafe roch. Wahrscheinlich war er früher als erwartet von seinem nächtlichen Streifzug zurückgekommen. Maple beruhigte sich wieder. Sie dachte darüber nach, warum Melmoth so seltsam roch, anders als alle anderen Schafe, die sie kannte. Vielleicht lag es an seinem Wanderleben. Melmoth hatte nie so gelebt, wie es Schafe normalerweise tun. Warum sollte er dann wie ein gewöhnliches Schaf riechen?
Es konnte mit den Herden zusammenhängen, die er getroffen hatte, bei denen er sich eine kurze Zeit wohl gefühlt hatte. So viele angefangene Schafsleben in so vielen verschiedenen Herden. Und keines davon zu Ende gegrast. Maple wurde schwindelig bei dem Gedanken. Kein Wunder, dass Melmoth wie viele verschiedene Schafe roch.
Vielleicht war es aber auch ganz anders. Vielleicht hatte Melmoth auf seinen Wanderungen Schafe kennen gelernt, besondere Schafe, die er mochte und die er mit sich fortgenommen hatte, als Erinnerung, als Geruch, als Weidegewohnheit und als Stimme im Kopf. Hatte Melmoth sich doch eine Herde zusammengesucht, eine Herde von Geisterschafen, die er an unsichtbaren Geruchsfäden hinter sich herzog?
Der Gedanke machte sie unruhig. So ganz würde sie sich nie an Melmoths Geruch gewöhnen können. Kein Schaf konnte das. Wie zur Bestätigung witterte sie noch einmal nach der seltsamen Herde dort draußen.
Und war auf einmal hellwach.
Nicht Melmoth! Nichts Halbes, Geheimnisvolles, Unerklärtes. Eine junge, flache, gierige Witterung. Gabriels Schafe! Ganz nah.
Maple blökte alarmiert.
Es war ein durchdringendes Blöken, das die Schafe augenblicklich von ihren fetten Traumweiden zurück in die Nacht holte. Überall hoben sich Schafsköpfe und spähten umher. Kurze Zeit später stand Georges Herde an der Tür des Heuschuppens und beobachtete, was auf ihrer Weide passierte.
Eine geschlossene Front von muskulösen Hälsen und rupfenden Köpfen bewegte sich auf sie zu. Gabriels Schafe hatten es irgendwie geschafft, aus ihrem Weidestück auszubrechen, und grasten nun Richtung Heuschuppen, dicht an dicht, unaufhaltsam. In der Dunkelheit wirkten ihre Körper noch bleicher, ein fahles Licht schien von ihnen auszugehen. Jetzt, da sie nicht mehr hinter dem Drahtzaun eingesperrt waren, sah man zum ersten Mal, wie viele es eigentlich waren. Es war ein bedrohlicher Anblick, ein bisschen wie eine der knisternden, summenden Maschinen, die im Herbst über die Felder fuhren.
»Gabriel kann keine Zäune bauen«, sagte Zora trocken. »Er ist ein schlechter Schäfer.«
»Was tun wir jetzt?«, jammerte Heide.
»Nichts«, sagte Cordelia. »Wir bleiben hier im Heuschuppen. In den Heuschuppen werden sie nicht kommen.«
»Aber wir können sie doch nicht unsere ganze Weide fressen lassen!« Mopple war außer sich. »Wo sollen wir morgen grasen? Wir müssen sie vertreiben!«
»Siehst du, wie viele es sind? Wie sollen wir sie vertreiben?«, fragte Zora. »Ich konnte noch nicht einmal mit ihnen sprechen.«
»Aber es muss irgendwie gehen!« Mopple blieb hartnäckig. »Sie werden alles abfressen. Den Hügel. Den Klee an den Klippen. Die Kräuter des Abgrunds.«
»Nicht alle Kräuter des Abgrunds«, sagte Zora stolz.
» George’s Place! « , blökte Mopple auf einmal. »Sie werden George ’s Place fressen!«
Die Schafe sahen sich erschrocken an.
» George’s Place « , flüsterte Cloud. »Alles, was wir nicht fressen durften.«
»Das Mauskraut«, sagte Maude.
»Schafsohr und Süßkraut!«, sagte Lane.
»Milchgras und Hafer!«, sagte Cordelia. Es stellte sich heraus, dass die Schafe erstaunlich gut wussten, was auf George’s Place so alles wuchs.
Der Gedanke an George’s Place gab den Ausschlag. Schlimm genug, wenn Gabriels Schafe sich über das hermachten, was eigentlich ihnen zustand. Aber dass sie auch noch das fressen würden, was sie an George erinnern sollte … worauf sie selbst freiwillig verzichtet hatten! Was zu weit ging, ging zu weit!
»Nein!« Mopple sah wütend aus. » George’s Place kriegen sie nicht!«
Damit war beschlossene Sache, dass sie George’s Place verteidigen würden.
*
Geführt von Mopple trabte die Herde zu George’s Place hinüber. Niemand hatte jetzt noch Angst. Wenn Mopple the Whale sich nicht fürchtete, konnte die Sache
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