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Glennkill: Ein Schafskrimmi

Glennkill: Ein Schafskrimmi

Titel: Glennkill: Ein Schafskrimmi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Swann
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Geschichte geht nicht weiter«, sagte Melmoth. »Eine Geschichte ist immer genau dann zu Ende, wenn sie zu Ende ist. Wie ein Atemzug. Jetzt. Aber das Leben ist weitergegangen, über Hügel und Moore, fernab der Straßen, entlang an salzigen Stränden und schimmernden Flüssen, in die nebligen Berge, wo die wilden Ziegen von Wicklow grasen, durch viele Herden hindurch wie durch Schneeflocken, bis ans Nordmeer, wo die Welt zu Ende ist, und weiter – und ich bin ihm nur gefolgt, in endlosen Schleifen, wie eine Maus durchs Gras läuft.«
    »Dann erzähl uns vom Nordmeer!«, blökte es hinter dem Stamm hervor.
    Doch Melmoth hörte nicht hin.
    »Ich wollte auch immer, dass die Geschichte weitergeht«, raunte er einem schwarz glänzenden Käfer zu, der auf einem langen Grashalm direkt vor seine Nase spaziert war. »Im eigenen Fell, im Zurück, nicht bei den Fremden, in der Welt. Aber dazu braucht es einen Hirten, und der Hirte ist tot.« Zähne schnappten zu, und der feiste Käfer verschwand samt seinem Grashalm zwischen Melmoths Kiefern. Der graue Widder kaute nachdenklich. Mopple rümpfte die Nase.
    »Woher weißt du, dass George tot ist?«, fragte Maple plötzlich.
    Melmoth sah sie erstaunt an. »Wie könnte ich es nicht wissen? Meine Vögel wissen es, die Luft weiß es. Der Blauäugige bringt seine Bleichäugigen hierher. Ihr habt den Gemüsegarten geplündert. Die Menschenherde trampelt über das Gras, wie es ihr gefällt. Außerdem«, fügte er nach einer Weile beinahe belustigt hinzu, »wer ihn so gesehen hat, in der Nacht, mit seinem stillen Herzen und lautem Blut und dem Spaten mitten durchs Leben, der kann sich ziemlich sicher sein, dass er tot ist.«
    »Du warst da in der Nacht?«, blökte Cloud aufgeregt. »Du hast gesehen, wer den Spaten in George gesteckt hat?«
    Melmoth schnaubte ärgerlich. »Ich habe es nicht gesehen«, sagte er. »Oh, wenn ich es gesehen hätte …«
    »Aber nachher?«, fragte Maple. »Kurz danach?«
    »Die Nachtvögel hatten noch nicht wieder zu singen angefangen. Ich habe ihn vor den Aaskäfern gefunden. Ich habe ihn gefunden, als noch nicht alle Lebenswärme in die Dunkelheit geflohen war.«
    »Und dann?«, fragte Maple gespannt. »Was hast du dann getan?«
    »Dreimal nach links umkreist, dreimal nach rechts umkreist, drei Sprünge in den Himmel, wie es die wilden Ziegen von Wicklow tun, wenn ein Weiser aus ihren Herden verstummt ist. Meinen Huf auf sein Herz gesetzt. Schwer zu sagen, bei den Menschen, wo das Herz sitzt. Ob da ein Herz sitzt. Aber bei ihm konnte man es wissen. Ich wäre gerne noch einmal von ihm gesehen worden. Nur von weitem. Nur kurz. Damit er weiß, dass ich es geschafft habe. Einen Sonnenuntergang zu spät. Nur einen einzigen. Seit dem letzten Schwalbenflug habe ich die vergehende Zeit gehört, rieselnd wie Sand im Wind. Dachte, es sei meine Zeit. Konnte nicht wissen, dass es seine war.«
    Melmoth sah traurig aus.
    Maple stellte sich seine zottige Gestalt in der Dunkelheit vor, seine glimmenden Augen, seine fließenden Bewegungen, einige schwarzbeschwingte Krähen auf dem Rücken. Das Rätsel des Hufabdrucks. Sie nickte.
    »Wolfsgeist.«
    Sie sah es deutlich vor sich.
    Die anderen Schafe blickten sie beunruhigt an. Sie dachten nicht gerne an den Wolfsgeist – nicht einmal am helllichten Tag, wenn die Sonne ihnen auf die Wolle schien und die Möwen kreischten. Maude witterte misstrauisch nach allen Seiten.
    Die Klügeren sahen Melmoth an. Langsam dämmerte es ihnen: Kein Wolfsgeist auf der Weide. Nur Melmoth. Obwohl das »nur« in Melmoths Fall nicht so passend schien. Sie überlegten, jedes für sich, ob sie sich vor Melmoth so sehr fürchten sollten wie vor dem Wolfsgeist oder vor dem Wolfsgeist so wenig wie vor Melmoth. Oder umgekehrt?
    Unbehagen erfasste die Herde. Lane und Mopple, die bisher bequem auf dem Boden geruht hatten, erhoben sich nervös. Sonst bewegte sich niemand. Ritchfield, der als Leitwidder in solchen Situationen ein Vorbild sein sollte, war ihnen diesmal auch keine große Hilfe.
    »Pah!«, sagte er nur.
    Pah? Bedeutete es, dass an der Geschichte von Melmoth und dem Wolfsgeist kein wahres Wort war? Dass da schon mehr als ein Wolfsgeist kommen musste, um Ritchfield aus der Fassung zu bringen? Dass er einfach nur etwas nicht richtig verstanden hatte?
    Sie sahen sich ratlos an. Einige Schafe blökten verwirrt.
    Schließlich rettete sie der Hunger.
    Während Melmoth von der Nacht im Steinbruch erzählt hatte, hatte kein einziges Schaf gegrast. Sie

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