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Glennkill: Ein Schafskrimmi

Glennkill: Ein Schafskrimmi

Titel: Glennkill: Ein Schafskrimmi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Swann
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meerabgewandten Seite, begann er zu grasen.
    Die Schafe wurden still. Zum ersten Mal sahen sie einen Menschen grasen. Es war ein grausiger Anblick. In Gabriels Hand verwandelte sich das seltsame Werkzeug in eine riesige Eisenklaue, die mit einem feindseligen Singsang durch das Gras fuhr. Seltsame Geräusche, wie von tief fliegenden Vögeln mit spitzen Schnäbeln, zischten über die Weide. Wo die Sense gewesen war, legten sich die Halme widerstandslos zu Boden. Das war das Schauerliche: Gabriel graste, und zugleich verschmähte er das Gras. Es war ein Bild sinnloser Zerstörung. Der gute Geruch, der von dem toten Gras aufstieg, machte die Sache nur schlimmer.
    Trotz der Sommersonne wurde den Schafen kalt. Mopple begann, leise zu zittern, irgendwo zwischen Empörung und Entsetzen.
    Außer dem bösen Geräusch der Sense war kein Laut zu vernehmen. Auch Gabriels Schafe hatten mit ihrem »Futter«-Blöken aufgehört und sahen mit Hunger in den bleichen Augen zu Gabriel hinüber.
    »Warum schneidest du nicht da hinten?«, fragte der Mann. »Da steht es doch viel höher.«
    Er deutete auf George’s Place.
    Die Schafe hielten den Atem an.
    »Lieber nicht«, sagte Gabriel. »Wenn die anderen da nicht fressen, ist vielleicht irgendein Gift im Boden. Das fehlt mir gerade noch, dass sie mir jetzt eingehen, nach der ganzen Mästerei.«
    »Du kennst dich aus«, sagte der Mann, »mit Tieren. Besser als ich mit Schlössern.« Gabriel warf ihm einen unfreundlichen Blick zu.
    Irgendwann war Gabriel zufrieden mit dem Zerstörungswerk. Er schob sich einen einzigen langen Grashalm zwischen die Zähne, dorthin, wo sonst die Pfeife steckte, und schlenderte zum Schäferwagen, um den Schubkarren zu holen. Eddie saß noch immer auf den Stufen des Schäferwagens. Sein Brot hatte er längst aufgegessen. Gabriel beachtete ihn nicht. Er fuhr das Gras zu seinen Schafen hinüber und warf es ihnen über den Zaun. Gabriels Schafe hatten jetzt ihr »Futter«-Blöken wieder angestimmt, und sie blökten so lange, bis auch das letzte von ihnen seine Nase in das tote Gras stecken konnte.
    Dann war Ruhe. Gabriel ging wieder zum Schäferwagen hinüber, wo Eddie noch immer auf den Stufen saß. Sie sahen sich lange an.
    »Du willst die Testamentseröffnung am Sonntag also einfach so abwarten?«, fragte Eddie.
    Gabriel nickte. Eddie stand abrupt auf, packte seine Tasche und marschierte davon Richtung Dorf.
     
    *
    Die Schafe brauchten eine Weile, bis sie sich von dem Erlebnis mit der Sense wieder erholt hatten. Niemand behauptete jetzt noch, dass Gabriel ein guter Schäfer war.
    »Er ist überhaupt kein Schäfer«, sagte Heide. »Wir sollten einfach so tun, als sei er nicht da. Er sieht uns ja auch nicht an.«
    Ein guter Plan. Bald darauf zeigten sehr viele Schafshinterteile in Richtung des Schäferwagens. Sie hatten beschlossen, mit demonstrativer Verachtung an Gabriel vorbeizugrasen. George wäre empört gewesen, aber Gabriel schien es nicht einmal zu bemerken. Dafür sah eines der Gabriel-Schafe ihnen mit Interesse zu. Es war der kräftige Widder, den Zora schon früher bemerkt hatte. Er hatte aufgehört, das abgesenste Gras in sich hineinzustopfen, und spähte konzentriert zu den George-Schafen hinüber.
    Zora bemerkte ihn als Erste. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, nie wieder mit den Gabriel-Schafen zu sprechen oder unnütz über sie nachzudenken. Nach ihrem verunglückten Gesprächsversuch hatte sie es beschlossen, und ein zweites Mal diese Nacht, als die Gabriel-Schafe wie fahle Raupen über ihre Weide hergefallen waren.
    Aber dieser eine Widder interessierte sie. Er war älter als die anderen und – wie es Zora vorkam – verständiger. Außerdem witterte Zora irgendwo zwischen seinen bleichen Augen einen Abgrund. Möglichst unauffällig begann sie, in seine Richtung zu grasen. Sie weidete einmal an ihm vorüber. Dann ein zweites Mal. Seine Augen verfolgten sie, aber sonst passierte nichts. Zora beschloss, es noch ein drittes Mal zu versuchen, ganz dicht am Drahtzaun entlang.
    Diesmal hatte sie Erfolg.
    »Futter«, sagte der Widder. »Tod.« Er hatte eine schöne Stimme, sanft und melodisch. Sie passte nicht zu seinem kurzbeinigen, gedrungenen Körper. Es war die Stimme eines sehr eleganten Schafs.
    »Ja«, sagte Zora mitfühlend. »Euer Gras ist tot. Er hat es geschnitten. Mit einer Sense.«
    Der Widder schüttelte den Kopf. »Wir sind Futter. Er ist Tod. Lauft weg!«
    »Gabriel?«, fragte sie. »Der Tod? Unsinn. Er ist ein Schäfer. Wenn auch

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