Glenraven
interessantesten.«
Jarenn wandte sich ab. Sie wollte die Schreie nicht mehr hören - die alptraumhaften Schreie. Doch sie wußte, daß sie die Schreie niemals vergessen konnte. Sie würden sie bis zu ihrem Tod verfolgen.
Sie hob den Kopf und blickte Aidris in die Augen. »Mir ist egal, was du mir antust, Aidris. Es macht mir nichts aus. Aber bitte… bitte … laß meine Kinder gehen. Schick sie zu Dommis. Bitte.«
Aidris lachte leise. »Glaubst du, deine Kinder sind zufällig hier? Nein. Tayes und Liendr sind hier, weil ich es so gewollt habe. Sie sind so süße kleine Dinger.« Sie legte den Kopf zur Seite. In dieser Haltung wirkte sie wie ein böser Vogel - wie ein Geier… wie ein grinsender Geier. »In tausend Jahren werden so viele Dinge alt und verlieren ihren Reiz, Jarenn«, erklärte die Schutzherrin. »Die Sonne geht auf, und sie geht unter - immer mit der gleichen langweiligen Eintönigkeit. Du kennst alles Amüsante, hast jede Geschichte gehört, jedes Lied gesungen, bis du es unendlich leid bist. Die Dinge verblassen, werden bedeutungslos, stumpfsinnig. Es wird so schwierig… so ungeheuer schwierig… sich jeden Tag neu zu motivieren.«
Die Schreie des schwangeren Mädchens waren zu einem leisen, flüssigen Blubbern geworden. Obwohl Jarenn wünschte, sie hätte weder Aidris noch das sterbende Mädchen gehört, erreichten die Geräusche ihren Verstand mit schrecklicher Klarheit.
»Meine Kinder haben keine Bedeutung für dich«, sagte Jarenn. »Du brauchst sie nicht. Laß sie gehen.«
»Tatsächlich werden sie mir kaum Leben geben können. Sie sind noch viel zu klein, um Magie zu besitzen. Weder für mich noch für meine Wächter sind sie mehr als nur ein Appetithappen - da hast du recht. Aber ich brauche sie. Nach all diesen Jahren habe ich herausgefunden, daß lediglich eine Attraktion mich nicht langweilt - das phantastische Spektakel des Todes. Und deine süßen kleinen Kinderchen werden mich außerordentlich amüsieren.« Aidris’ Gesicht war eine absurde Farce des herzlichen, freundlichen Lächelns, das Jarenn früher an ihr gesehen hatte. »Für dich gilt dasselbe.«
Kein Schreien mehr. Nichts. Adeleth war tot. Es war still geworden, bis auf ein leises Flehen um Gnade in den anderen Zellen.
Aidris steckte den Stab wieder in den Eimer.
»Hol sie aus deinem Rock«, befahl sie. »Du willst doch nicht, daß sie bei deinem Tod zusehen müssen. Glaub mir, kleine Mutter, meine liebe Freundin, es wird weniger schmerzhaft sein, wenn ihr zusammen sterbt.«
Jarenn starrte zu Aidris. Sie stellte sich vor, wie ihre Kinder zusehen mußten, während sie aufquoll, schrie und sich die Augen auskratzte. Sie wünschte, sie wäre schon tot. Sie wünschte, sie könnte die Kinder schnell und schmerzlos töten und sich dann selbst umbringen. Sie wollte betteln, auf die Knie fallen und die erbarmungslose Schutzherrin anflehen, ihr alles geben, wenn sie nur ihre geliebten Kinder verschonen würde. Sie hätte wirklich alles gegeben - aber sie konnte in Aidris’ Blick erkennen, daß ihr nichts mehr gefallen würde als eine solche Schau. Jarenn war Kin - Kin der Alten Linie. Die Alte Linie ertrug alles. Sie lebten erhobenen Hauptes und starben tapfer. Es würde besser sein, wenn sie gemeinsam starben.
Sie hob den Rock, zog Tayes und Liendr hervor und nahm sie in die Arme.
»Willst du gar nicht versuchen, ihr Leben zu retten? Schick sie zu mir«, sagte Aidris. »Vielleicht können mich meine kleine Nichte und ihr Bruder dazu überreden, sie am Leben zu lassen. Vielleicht sagen sie mir, wie sehr sie mich lieben.« Sie schürzte die Lippen und zuckte mit den Achseln. »Ich dachte eigentlich, du würdest es zumindest versuchen.«
»Wenn ich sie zu dir geschickt hätte, dann würdest du mich zusehen lassen, wie sie sterben«, erwiderte Jarenn. »Du würdest sie nicht gehen lassen.«
Aidris lachte laut auf. Sie amüsierte sich königlich. »O, ja. Da hast du schon wieder recht. Du hast ja so recht. Du bist bei weitem nicht so dumm, wie du aussiehst.«
Jarenn drückte die beiden stillen, verängstigten Kinder enger an sich und blickte zu Aidris. »Ich habe dir meine Freundschaft gegeben«, sagte sie kalt. »Du hast sie nicht verdient.«
»Ich habe deine Freundschaft nicht gebraucht . Warum sollte sich der Löwe mit dem Lamm anfreunden, das er zum Abendessen verspeisen wird - wenn nicht aus Freude an der Ironie? Warum sollte sich der Vogel mit dem Wurm anfreunden? Du bist nichts weiter als Fleisch. Und du warst
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