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Gletscherkalt - Alpen-Krimi

Gletscherkalt - Alpen-Krimi

Titel: Gletscherkalt - Alpen-Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan König
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Rampe nicht aus
dieser Falle hätte helfen können.
    Tinhofer kehrte in sich selbst zurück. Jetzt beobachtete er sich
nicht mehr von außen wie während des Sturzes, sondern sein Ich, seine Seele
oder was auch immer war jetzt wieder in seinem Körper. Nun kam auch der
körperliche Schmerz, und er kam mit aller Macht.
    Tinhofer schrie, schrie wie noch nie in seinem Leben. Sein Bein,
seine Schulter, sie erschienen ihm wie weggerissen, so, als hätte ihm eine
Bombe, eine Tretmine, irgend so etwas Perverses die Gliedmaßen zerfetzt, den
Körper zerstört.
    Er schrie, und er konnte gar nicht mehr aufhören zu schreien. Und er
fing immer stärker zu zittern an. Die Zähne klapperten so heftig, dass seine
Kiefer aufeinanderschlugen. Er zitterte vor Kälte, vor Schmerzen und vor Angst.
    Er schrie, und er hoffte, dass sein erbärmliches Gebrüll von
irgendjemandem gehört wurde. Es musste doch jemand hören. Es war ganz einfach
unmöglich, dass sein Schreien nicht zu hören war.
    Er dachte an sein Handy, dass es hier sein müsste, dass er es jedoch
nicht dabeihatte, es lag nämlich bei seinen Sachen im Biwak, weil es hier, in
diesem Teil des Gebirges, eh nie Empfang hatte. Einen Versuch aber wäre es wert
gewesen.
    In dem Loch hoch über ihm sah er die Dämmerung. Er flehte und betete
in sein Schreien hinein, dass jemand dort auftauchen würde, dass sich jemand
über den Rand beugte, zu ihm herunterrief.
    Er zwang sich, nicht mehr auf die Knochenspitzen zu schauen, zwang
sich, sein kaputtes Bein zumindest so weit zu ignorieren, wie es der Schmerz
zuließ, und er starrte stattdessen unablässig hinauf zu dem Loch, wo die Retter
kommen würden, kommen mussten.
    In den kurzen Pausen, die zwischen den Schreien lagen und die er
brauchte, um wieder zu Atem zu kommen, dachte er nichts anderes, als dass sie
kommen würden.
    Ich schreie, schreie, schreie, dachte er. Sie werden mich hören,
dachte er. Sie werden mich hören, und sie werden mich finden und dann
herausholen.
    Vor Schmerzen schrie er um Hilfe. »Hilfe! Hallo! Hilfe!«
    Er schrie bis zur absoluten Erschöpfung.
    Und dann sah er sie. Die Retter! Zwei Gesichter tauchten am
Spaltenrand auf, darüber der Himmel im letzten Licht dieses grausamen Tages. Er
konnte ihre Gesichter nicht sehen, sie schauten ja zu ihm herab ins Finstere.
Doch er hörte ihre Stimmen – und allein das tat schon gut. Stimmen, Menschen,
und er war nicht mehr allein.
    »Wir holen dich raus«, hörte er einen der Männer rufen. »Halt durch!
Wir holen dich rauf.«
    Und dann vergingen endlose Minuten des Wartens, wo für ihn kein
Mensch mehr zu sehen war und er auch nicht hören konnte, dass jemand in der
Nähe war.
    Er wimmerte und schrie, die Schmerzen waren so unerträglich wie die
Kälte. Und doch gab es den Trost: »Halt durch! Wir holen dich rauf.«
    Dann geschah wieder etwas. Schnee rieselte herab, fiel ihm ins Gesicht,
fiel ihm kühlend auf die Wunden in seiner Wade. Ein Seil wurde langsam, ganz
langsam herabgelassen, es kam immer näher, reichte aber noch nicht ganz bis zu
ihm herab. Egal, es würde jemand kommen, gleich, zu ihm herab auf den Boden der
Spalte oder was immer das war, worauf er lag, und dieser Mensch würde ihm
helfen.
    Er sah ihn kommen, Meter um Meter am Seil herab. Er wollte etwas
sagen, brachte aber nichts mehr heraus. Nicht einmal ein Stöhnen oder Wimmern.
Nur die Hand, die linke, konnte er leicht anheben; grüßen wollte er damit,
dankbar seinen Retter begrüßen.
    Dann war der Mann bei ihm. Er sah das Abzeichen der Bergrettung am
roten Anorak. Es war ein Geschenk, fast eine Wiedergeburt.
    Der Retter kniete neben ihm im Schnee, sprach mit ihm, legte ihm die
Hand auf die gesunde Schulter. Das Erste, was der Mann machte, war, den
Medizinkoffer aus dem Rucksack zu holen.
    Medizin! Das war es, was er so dringend brauchte. Medizin, die ihm
die Schmerzen nahm. Sein Ärmel wurde zurückgeschoben, der Bergretter zog eine
Spritze auf, desinfizierte die Stelle, wo er einzustechen gedachte, und setzte
dann mit erstaunlich ruhiger Hand die Injektion.
    Es dauerte nur Sekunden, bis ihn ein Gefühl der Wärme durchflutete.
Hatte er vor Kurzem noch am ganzen Körper gezittert – eine Gletscherspalte ist
ein Kühlschrank, dachte er, ist ein Kühlschrank, ist ein Gefrierschrank, ist
ein Kühlschrank oder eine Tiefkühltruhe, ja, so was ist eine Gletscherspalte –,
jetzt wurde ihm warm von den Zehen bis unter die Haarwurzeln, und die Schmerzen
verflüchtigten sich. Er machte die Augen zu in

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