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Gletscherkalt - Alpen-Krimi

Gletscherkalt - Alpen-Krimi

Titel: Gletscherkalt - Alpen-Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan König
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dem wohligen Gefühl, dass alles
gut werden würde, trotz der schweren Verletzungen. Dass er leben würde –
zumindest noch ein paar Monate. Vielleicht sogar noch länger.
    Er machte die Augen zu. Er ließ sich zurücksinken, dankbar, dass er
gerettet würde, dankbar, dass die Spritze ihm die Schmerzen nahm, dankbar für
alles, was jetzt mit ihm geschah.
    Als er die Augen wieder öffnete, es waren nur Sekunden vergangen,
höchstens aber eine Minute oder vielleicht zwei oder drei, war alles schwarz.
Die Gletscherspalte war schwarz. Das Loch hatte sich verdunkelt. Niemand war
da. Nur der Schmerz. Und der kehrte mit Gewalt in ihn zurück.
    Das Erschrecken darüber, dass er alles nur geträumt, nur phantasiert
hatte – den Bergretter, die Spritze, die Wärme –, war grauenvoll, war
unerträglich. Aber es musste ertragen werden.
    Tinhofer nahm seinen ganzen Verstand zusammen, um seine Situation zu
analysieren. Als er in die Spalte gestürzt war, hatte die Dämmerung noch nicht
eingesetzt. Er hatte sich schwere Verletzungen zugezogen, und es gab keinen
Ausgang aus der Spalte. Nicht einmal ein gesunder, unverletzter Alpinist wäre
ohne Hilfe aus der Spalte gekommen. Er konnte sich an die Dämmerung, ans letzte
Licht erinnern, jetzt war Nacht. Und wenn er sich genügend konzentrierte, was
allerdings kaum noch gelang, konnte er dort, wo das Loch war, ein paar Sterne
sehen.
    Die Schmerzen kamen jetzt wie Ebbe und Flut, nur dass die Ebbe nie
lange dauerte, die Fluten aber mit aller Macht kamen und es ewig dauerte, bis
sie sich wieder zurückzogen.
    Er hörte auf, um Hilfe zu rufen. Es war Nacht, und niemand war im
Gebirge, der ihn hören konnte. Er schrie nur mehr vor Schmerzen. Doch diese
Schreie wurden kraftloser, glichen jetzt schon mehr einem Röcheln und Würgen.
    Diese Nacht, das wusste Tinhofer, konnte er nicht überleben.
    Zugleich setzte er alles daran, wenigstens noch so lange zu leben,
bis wieder Licht in die Spalte fallen würde.
    Ich darf nicht einschlafen, dachte er. Einschlafen ist der Tod. Wenn
ich einschlafe, richtig einschlafe, wache ich nicht mehr auf.
    Sein zerstörter Körper verlangte nach nichts stärker als nach dem
Schlaf, der Ohnmacht, dem Tod. Nicht mehr existieren, nichts mehr spüren, nicht
mehr leiden.
    Mach die Augen zu!, schien ihm sein Körper zu sagen. Mach die Augen
zu! Mal war es ein Flehen, mal ein Befehl. Mach die Augen zu, und du bist
erlöst …
    Nicht einschlafen!, sagte ihm sein Geist. Nicht einschlafen!,
forderte sein Verstand! Nicht einschlafen!, befahl ihm sein Wille. Denn
Tinhofer hatte noch etwas vor. Dazu aber brauchte er Licht, wenigstens ein
klein wenig Licht, und das würde vor sechs Uhr früh nicht zu haben sein.
    Unter größten Schmerzen und Anstrengungen setzte er sich ein wenig
auf, um den Rucksack von den Schultern nehmen zu können. Dabei schrie er
wieder. Es war furchtbar, wenn sich die gebrochene Schulter auch nur einen
Millimeter bewegen musste. Irgendwie schaffte er es. Der Rucksack lag neben
ihm, mit der linken Hand nestelte er zitternd und in immer neuen Versuchen die
Verschlüsse auf, holte dann, was das Schwierigste war, die gepolsterte
Fototasche heraus und legte sie neben sich.
    Diese Aktion hatte ihn die allerletzte Kraft gekostet. Er lag wieder
auf seinem Rucksack, der jetzt halb leer war, atmete hechelnd, röchelte,
würgte, zitterte am ganzen Körper und dachte: So ende ich also.
    Dachte: Als ich losging, wusste ich, dass ich nicht mehr lange zu
leben habe. Scheißdiagnose. Etwas ist in mir drinnen, das mich von innen her
auffrisst.
    Dachte: Als ich in die Berge kam, habe ich mit dem Gedanken
gespielt, irgendwo runterzuspringen. Ein schnelles Ende. Hätte ausgesehen wie
ein Unfall, die Lebensversicherung hätte gezahlt, Marianne wäre versorgt
gewesen.
    Jetzt, dachte er, habe ich diesen Unfall. Kein schnelles Ende. Keine
frei gewählte Entscheidung. Einen Tod, der noch schlimmer ist als das Verenden
in einem Krankenhaus.
    Er dachte: Ich möchte noch leben. Möchte mit Marianne reden, möchte
meine Tochter und meinen Sohn wiedersehen, möchte mein Buch fertigstellen.
    Und, dachte er, ich möchte die Stadt wiedersehen, Innsbruck, am
frühen Abend, wenn die Türme und Dächer leuchten, wenn der Föhn die weißen
Wolken durchs Inntal bläst, und ich würde gerne, so gerne noch einmal auf einen
Berg steigen, ganz früh am Morgen, und auf dem Gipfel stehen, wenn im Osten die
Sonne aufgeht.
    Aber es war Nacht. Er schaute hinauf zu dem Loch und sah einen
gelben

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