Glockengeläut
fahren, während ich schrieb, womit ich die letzten Reste eines möglicherweise noch existierenden Scheitels vernichtete und hinsichtlich meiner Frisur immer mehr einem Struwwelpeter ähnelte, hatte ich damals doch noch ungewöhnlich dickes und borstiges Haar. So wechselte ich das Hemd, band mir meinen alten Schulschlips um und versuchte mein Glück mit einem Kamm.
Und dann, während ich mir jegliches weitere Grübeln strikt untersagte, trat ich beherzt durch die Flurtür des zweiten Stocks. Während der Freedom- Zeit war ich bereits mehrere Male dort gewesen, doch nun hatte sich alles vollständig verändert. Die Wände des äußeren, zum Flur hin gelegenen Raums hatte man frisch in Pink, mit einer Blumengirlande als oberem Abschluß, tapeziert sowie mit Bildern geschmückt, die wohl englische Landschaften darstellten, höchstwahrscheinlich von einem Amateur gemalt und recht lieblos und wie provisorisch in Passepartouts gerahmt. Erstaunlich viele dieser Gemälde hingen in unterschiedlicher Höhe an den Wänden. In der Mitte des Raums befand sich ein offensichtlich neuer Schreibtisch, der völlig leer war, nicht einmal eine Schreibmaschine unter einer Schutzhülle oder ein Radiergummi waren zu sehen. Ich war allein. Doch die Tür zum nächsten Zimmer stand halb offen. Ich schritt darauf zu. »Ist da jemand?« rief ich.
Mr. Millar zog die Tür nun ganz auf. »Kommen Sie herein«, sagte er, wobei er mir immer noch nicht in die Augen sah und mir immer noch nicht die Hand zum Gruß reichte. Auch schien er es nicht für nötig befunden zu haben, sein Jackett überzustreifen.
»Ganz allein?« Er wirkte enttäuscht, obwohl das, wie ich bereits andeutete, absurd war.
»Ja«, antwortete ich, »nur meine Wenigkeit.«
»Arbeit?« Er sagte es nicht so, als wolle er sich dafür entschuldigen, mich gestört zu haben, oder Konversation machen; vielmehr schien er auf eine ungewöhnliche Freizeitbeschäftigung anzuspielen, der ich dem Vernehmen nach bisweilen nachging.
»Ja. Aber das macht nichts. Ich bin froh über jede Unterbrechung.« Was natürlich nicht ganz der Wahrheit entsprach.
»Sherry?«
Das Flaschenetikett verriet mir, daß es sich um einen Import aus den Kolonien handelte, und die drei Gläser auf Mr. Millars Schreibtisch waren billigste Kaufhausware. Unter normalen Umständen würde es mir die Höflichkeit verbieten, solches derart offen auszusprechen, doch glaube ich, daß es in diesem Fall wichtig war. Jetzt mußte nur noch die Flasche geöffnet, mußten mit Hilfe eines zusammengeknüllten schwarzen Durchschlagpapiers die Bröckchen und Krümel aus den beiden Gläsern gewischt werden, bevor man sie benutzen konnte. Es schien, als habe man dieses opulente Fest allein für mich arrangiert.
»Gern.«
Die Entscheidung fiel nicht schwer, da es außer Sherry nichts anderes gab.
Mr. Millar hantierte mit einem nicht sonderlich guten Korkenzieher, einem Exemplar mit einem im Verhältnis zur Schraube zu kleinen Durchmesser und einem viel zu dünnen, scharfkantigen Griff. Ich fühlte mich fast bemüßigt, meine Hilfe anzubieten. Zumindest war ich mir der Notwendigkeit bewußt, irgend etwas zu sagen, während immer mehr Zeit in peinlichem Schweigen verrann, der Korken abbrach und sich weigerte, herauszugleiten. Mir wollte jedoch kein geeignetes Gesprächsthema einfallen.
Er hatte mir keinen Sitzplatz angeboten, obwohl es zwei nagelneue Bürostühle und einen Sessel hinter Mr. Millars ebenfalls neuem Schreibtisch gab. Mr. Millars Schreibtisch bestand aus Mahagoni-Imitat, während der Schreibtisch im Vorzimmer irgendein helleres und gelblicheres Holz vorspiegeln sollte. Das Allerheiligste war in einem hellen Purpur - vielleicht war es auch eher ein dunkles Mauve - gehalten. Ich sehe die Farbe noch heute vor mir, obwohl ich sie nach diesem einen Besuch nie wieder zu Gesicht bekam und dieser Besuch zudem, wie sich bald herausstellte, ein überaus kurzer war. Irgendein ebenfalls purpurfarbenes Stoffteil bedeckte die Mitte des Fußbodens, wo der Schreibtisch stand, doch vertrug sich dieser Farbton nicht mit dem Purpur der Wände, die vier oder fünf alte Portraits schmückten, Bilder, wie man sie zweimal wöchentlich in bestimmten Auktionshäusern ersteigern kann. Meist sind derartige Gemälde ›alt‹, jedoch von begrenztem künstlerischen Wert, wie jene ›alten Bücher‹, die viele ihrer Besitzer für ungeheuer wertvoll erachten, bis sie, in Zeiten der Not zu ihrer Veräußerung gezwungen, erkennen müssen, daß ihre
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