Glockengeläut
von mittlerer Größe. Er war glattrasiert, mit einem leichten schwarzen Schatten um das Kinn. Ich vermute, daß er vierzig war, vielleicht auch ein gut erhaltener Fünfzigjähriger. Er hatte einen dichten, schwärzlichen Haarschopf, dessen Kanten so akkurat geschnitten waren, daß er ihm wie eine Kappe um den Schädel zu liegen schien, und der von Brillantine glänzte. Er war jederzeit auffallend gut gekleidet, was nicht abwertend gemeint ist, mit Ausnahme der Veloursschuhe (zu diesen Schuhen trug er, da es aufs Wochenende zuging, einen rustikalen Anzug, wie ihn Städter bevorzugen). Er war ein Jedermann, wie man ihm immer und überall begegnen konnte.
Ich möchte sogar behaupten, daß Mr. Millar zu jener Spezies Mensch gehörte, die einen absichtlich spüren läßt, daß sie mit ihren kostbaren Gedanken andernorts weilt. Doch nur wenige gingen dabei so weit wie Mr. Millar. Selbst bei dieser unserer ersten (und fast auch schon einzigen) Begegnung fühlte ich, daß Mr. Millars Gedanken so abwesend waren wie etwa jene von Boris Godunow, der gerade den rechtmäßigen Thronerben beseitigt hat, oder wie die unseres fehlgeleiteten Macbeth.
»Da Sie schon einmal hier sind«, setzte Mr. Millar die ›Unterhaltung‹ fort, »möchte ich Ihnen gern etwas erklären. Es scheint mir die rechte Gelegenheit dafür zu sein.«
»Nur zu«, erwiderte ich, indem ich mein nunmehr nur noch halbvolles Sherryglas hin und her schwenkte.
»Wir haben im Augenblick besonders viel Arbeit. Ich muß oft Überstunden machen. Also seien Sie nicht erstaunt, wenn Sie Geräusche hören.«
»Ich bin froh, daß Sie mir das sagen.«
»Ich möchte nicht, daß Sie denken, wir hätten Einbrecher im Haus.« Mr. Millar lachte sein metallisches Lachen. »Zunächst glaubte ich, ich könnte mich mit dem Mädchen im Souterrain arrangieren. Recht hübsche Person übrigens, finden Sie nicht auch?«
»So weit ich das beurteilen kann ...«, pflichtete ich ihm beiläufig zu.
»Aber natürlich muß sie an ihre Familie denken. Also hab’ ich mich dazu entschlossen, mein Nachtlager vorübergehend hier oben aufzuschlagen. Warum auch nicht?« Mr. Millars farblose Augen wanderten unstet durch den Raum, fast als erwarte er von dort eine Antwort auf seine Frage. Anschließend schweifte sein Blick zur Decke. Für mich war diese Neuigkeit so unwillkommen, daß mir abermals die Worte fehlten.
»Und Sie sind einer dieser berühmten Schriftsteller, wie ich gehört habe?«
»Ich bemühe mich, einer zu werden«, erwiderte ich.
»Ich hab’ auch einmal daran gedacht, ein Buch zu schreiben.«
»Hatten Sie ein bestimmtes Thema im Auge?« fragte ich ohne die Spur von Sarkasmus.
»Ich glaube schon«, erklärte Mr. Millar. »Der Himmel weiß, was es war.« Er lachte erneut. »Lassen Sie mich nachschenken.«
»Ich müßte schon längst wieder an der Arbeit sein.«
»Nur noch einen zum Abschied«, sagte Mr. Millar und machte eine gerade noch erkennbare Bewegung, mich zurückzuhalten. Er schwenkte die Flasche wild umher, doch es gelang ihm, sich so weit zu konzentrieren, daß er mein Glas nachfüllen konnte.
»Ja, süßes kleines Ding!«
Ich lächelte ihm zu, wie man sich ›von Mann zu Mann‹ eben zulächelt; oder zumindest wäre es so gewesen, wenn wir beide Männer gewesen wären und nicht der eine ein halbwüchsiger Junge und der andere der Schatten eines Mannes.
»Der Mensch ist nicht dazu geschaffen, allein zu leben. Meinen Sie nicht auch?«
»Es gibt gute Argumente dafür und dagegen«, sagte ich.
»Warten Sie nur, bis Sie älter werden«, erwiderte Mr. Millar und lachte wieder sein Lachen. »Vorher können Sie gar nicht mitreden.«
»Ich wohne ein ganzes Stückchen entfernt von hier, wissen Sie«, fuhr er dann fort. »Ich könnte unmöglich jeden Abend nach Hause fahren, wenn wir dermaßen viel Arbeit haben. Könnte den Streß gar nicht durchstehen.«
»Ist wohl ein gutes Zeichen, wenn es für Steuerberater viel Arbeit gibt.« Es erstaunte mich zutiefst, daß Mr. Millar behauptete, er besitze ein wie weit auch immer entferntes ›Heim‹.
»Ja, schon, wenn Sie es so sehen wollen.«
Ich erhob mich. »Ich muß jetzt gehen.«
»Hat mich gefreut, daß Sie kommen konnten.«
Er begleitete mich nur bis zur Tür seines Allerheiligsten, dann wandte er sich ab, sein ganzes Denken beherrscht von etwas, von dem man lieber nichts wissen wollte.
Von jenem Tag an, ich hätte es mir eigentlich denken können, schien Mr. Millar fast jede Nacht in seinem Büro zu bleiben.
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