Glockengeläut
Schätze trotz unbestreitbaren Alters nicht den geringsten Marktwert besitzen. Diese Gemälde jedenfalls zeigten verschiedene Vertreter des Landadels aus dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, herausgeputzt mit Spitzenjabots und Perücken; vier Männer und eine Frau. Sie steckten in arg lädierten Rahmen, von denen die Farbe abblätterte. Die Frau war ältlich und in keiner Weise außergewöhnlich. Man wäre nie auf die Idee gekommen, daß die Portraits Ahnen von Mr. Millar darstellten.
»Schade, daß niemand bei ihnen war«, meinte Mr. Millar, als er die Gläser füllte. Er fischte ein Stück Stanniol vom Flaschenhals aus einem der Gläser. Auch dies erwies sich als nicht eben leicht durchzuführen, denn außer einem Papiermesser stand hierfür kein Gerät zur Verfügung.
»Ich komme nicht aus London«, sagte ich. »Ich kenne nur wenig Leute hier.«
Mr. Millar schien das nicht sonderlich zu interessieren, was ich ihm kaum übelnehmen konnte.
»Ich frag’ mich nur, wie lange Lloyd George es wohl noch macht.«
Das war nun wirklich die gewaltsamste Art, ein Gespräch zu beginnen. Offensichtlich hatte ich ihn bitter enttäuscht, indem ich ohne Begleitung erschienen war. Dann fand der Sherry seinen Weg zu mir. Da er mir immer noch keinen Platz anbot, setzte ich mich eigenmächtig auf einen der Bürostühle. Sofort ließ auch Mr. Millar sich nieder. Mir fiel spontan nichts Geistvolles ein, das ich zu Lloyd George hätte vorbringen können, bin mir aber sicher, daß ich irgendeine Antwort zustandebrachte.
»Santé!« erklärte Mr. Millar, wobei er mir noch immer nicht in die Augen sah. Überhaupt schien er seinen Blick auf nichts Bestimmtes zu richten. Er wirkte auf mich wie ein Mann mit zwei Glasaugen. Ich nahm einen kräftigen Schluck aus dem glücklicherweise großen Sherryglas.
»Liegt ein Gewitter in der Luft«, fuhr Mr. Millar fort. »Wann es wohl losgehen wird?«
»Dauert bestimmt noch ein wenig.«
»Kommen Sie vom Land?«
»Nein, eher aus einem Vorort. Dazu wurde er in letzter Zeit zumindest.«
»Recht guter Sherry, finden Sie nicht auch?«
»Außerordentlich gut.«
»Lesen Sie die Post oder den Telegraph ?«
»Ich habe die Times abonniert.«
»Sind sie dafür nicht noch ein wenig jung?«
»Ich bin damit groß geworden.«
»Wirklich?«
»Es gab nie eine andere Zeitung bei uns im Haus.«
»Guter Gott! Das sollten Sie denen mal schreiben!« Mr. Millar ließ ein metallisches Lachen hören.
Es schien, als gäbe es rein gar nichts, was ihn an mir ohne eine Begleitperson, mit der ich nun einmal nicht aufwarten konnte, zu interessieren vermochte. Wir hatten die größten Schwierigkeiten, die Unterhaltung nicht vollends versiegen zu lassen.
»Darf ich Ihnen nachschenken?« Er sagte dies genauso unbeteiligt dahin, wie er das ganze bisherige Gespräch bestritten hatte. Ich jedoch nahm mit einiger Erleichterung die zusätzliche Sherryration an. Ich brauchte etwas, um mir Mut zu geben, ich konnte mich unmöglich sofort davonmachen.
Mir fiel beim besten Willen nichts mehr ein, womit ich die Konversation hätte am Leben erhalten können. Auch hatte ich Grund zu zweifeln, ob überhaupt irgendeine wie auch immer geartete Bemerkung meinerseits dieses Kunststück hätte bewerkstelligen können. Das Auffälligste an Mr. Millar war indes die Tatsache, daß seine Gedanken augenscheinlich an einem anderen Ort weilten, ja sogar, wie ich die ganze Zeit instinktiv fühlte, unwiderruflich an einen anderen Ort gekettet waren. Seine gläsernen Augen und fahrig herumwandernden Hände verkündeten ihre eigene Wahrheit, während seine Lippen belanglose Worte produzierten.
»Irgendwelche Tips für das Rennen Cambridgeshire?«
Ich schüttelte nur den Kopf. Ich konnte mir durchaus vorstellen, daß Mr. Millar sich lebhaftere Gesellschaft gewünscht hätte.
»Was ist mit Tennis in diesem Sommer? Gut, wenn es wieder anfängt, nicht wahr?«
»Wie so vieles andere.«
»Aber es gibt auch vieles, das nicht so bald wieder anfangen wird.«
»Ja«, bemerkte ich. »Das ist wahr.«
»Es würde mich nicht wundern, wenn man nie wieder ein anständiges Polospiel zu sehen bekäme. Kein Spiel, das sich lohnen würde.«
Er hockte seitlich auf seinem Schreibtisch und wandte mir von links sein Profil zu.
Ich habe wohl bislang wenig - wenn ich es recht bedenke, so gut wie gar nichts - über Mr. Millars Aussehen gesagt. Womöglich weil es wahrlich wenig zu berichten gibt. So weit ich mich erinnere, war er ein schlanker, dunkler Typ
Weitere Kostenlose Bücher