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Glockengeläut

Glockengeläut

Titel: Glockengeläut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Aickman
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Die anderen gingen zu den üblichen Zeiten, doch Mr. Millar lief nach Büroschluß die Treppen hoch und wieder herunter, schloß Türen auf und zu, transportierte Gegenstände von einem Ort an den anderen, tätigte späte Anrufe und führte manchmal, wenn er ziellos durch sein Büro strich, sogar Selbstgespräche. Wenn sein rastloses Herumrennen mich am Arbeiten hinderte (was, wie ich zugeben muß, selten genug vorkam), öffnete ich leise die Tür und lauschte unverfroren die dunkle Stiege hinunter. Doch Mr. Millars Aktivitäten waren augenscheinlich so banal, so inhaltleer, daß es sich einfach nicht lohnte, längere Zeit zu spionieren, und das Geplapper, das er, wenn auch recht laut und deutlich, an die eigene Adresse richtete, war weniger zwanghaft als vielmehr gedankenverloren. Die drückende Bürde seiner Gedanken hatte ihn schon lange von seinem Selbst getrennt, auch wenn er noch aus eigener Kraft weiterfunktionierte. Er war eine wandelnde Hülse geworden, von welcher das Gestammel der Welt als sinnentleertes Echo zurückhallte.
    Schlief er überhaupt? Und wenn ja, worauf? Ich hatte in seinem Allerheiligsten keine Schlafgelegenheit außer dem Fußboden wahrgenommen. Doch wie ich bereits erwähnte, habe ich es nie wieder betreten. Ich vermute, daß man ein Sofa hätte die Treppe heraufbringen können, ohne daß Geräusche, etwa das Entlangschaben am neuen Fluranstrich, zu mir gedrungen wären. Ich wußte nicht, ob Mr. Millar seine Tür verschloß, sei es die äußere oder die innere, wenn er endlich aufhörte, ruhelos die Treppe herauf und herunter und von Zimmer zu Zimmer zu wandern. Und mit Sicherheit habe ich ihn nie schnarchen hören, obwohl sein kahles Allerheiligstes direkt unter meinem Schlafzimmer lag. Doch Schnarchen hat immer etwas Absurdes an sich, und ›absurd‹ war nie das richtige Wort für Mr. Millar.
    Das geschah während der ersten Tage, nachdem Mr. Millar sein Domizil unter mir aufgeschlagen hatte. (Ich habe mir oft über die Bedingungen in seinem Mietvertrag den Kopf zerbrochen. Doch die Hausverwalter, mit denen wir es zu tun hatten, schenkten den Zuständen nicht eben viel Beachtung.) Es sollte jedoch nicht mehr lange dauern, bis Mr. Millar Besuch bekam.
    Ich hatte beobachtet, daß er spät nachts oft nicht mehr im Haus zu sein schien. Manchmal ging ich, aus welchem Grund auch immer, noch einmal nach unten, oder ich kehrte vom Theater, wo ich immer im dritten Rang, oder vom Kino, wo ich in den vordersten Reihen saß, zurück (meine Mutter versäumte es nie, mich auf die verderblichen Folgen für mein Augenlicht aufmerksam zu machen). Jedesmal zwischen neun Uhr abends und zwei Uhr in der Frühe sah ich die Lichter immer noch brennen, einige der Türen sperrangelweit offenstehen, aber keine Spur von Mr. Millar. Ich vermutete, daß er sich von Zeit zu Zeit mit etwas Eßbarem versorgen müsse. Ich schaute jedoch nie in einem der Räume mit den offenen Türen nach, fürchtete ich doch, Mr. Millar könne hinter einer dieser Türen hervorspringen, »buh« schreien und mir einen Streich spielen. Wahrscheinlich vermutete ich zu Recht, daß er sich dann nicht im Büro aufhielt - was sich von dem Zeitpunkt an bestätigte, als er nicht mehr allein zurückkehrte.
    Normalerweise hörte ich nur Stimmen, Stimmen und mühsam die Treppe hochstapfende, oft sehr langsame Schritte, und dann nicht enden wollende Gespräche aus dem Geschoß unter mir; bisweilen allerdings gab es auch andere schwer beschreibbare Geräusche. Meist handelte es sich um schrille, ordinäre weibliche Stimmen, obwohl ich nur selten einzelne Worte deutlich verstehen konnte. Bis zu einem gewissen Punkt fiel die Erklärung leicht: In jenen Tagen vor Mr. R. A. Butlers berühmtem Sperrzonengesetz gab es in unmittelbarer Umgebung unseres Hauses Straßen, auf denen man mit geringerem Aufwand eine Frau auflesen und mit ihr anstellen konnte, was man wollte, als man ein Taxi bekam. An manchen Abenden indes waren Mr. Millars späte Besucher Männer, immer mehrere gleichzeitig und immer mit ebenso rauhen Umgangsformen wie die ›Damen‹. Doch auch die Frauen kamen nie allein: nie allein und offenbar alle eng miteinander befreundet.
    Ich verspürte keine Neigung, hier genauer nachzuforschen. Meine Empfindungen für Mr. Millar hielten sich die Waage - er langweilte und beunruhigte mich zugleich. Allerdings artete der Lärm, den er gemeinsam mit seinen nächtlichen Besuchern veranstaltete, zu einer ernsthaften Belästigung und Ruhestörung aus,

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