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Glockengeläut

Glockengeläut

Titel: Glockengeläut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Aickman
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bereits ›überreif‹. Folglich war der Kontakt mit ihm so etwas wie ein Schnellkursus im Erwachsenwerden. Meine Gründe, warum ich blieb, ähnelten somit denen eines Schuljungen, der nicht von der Schule fortläuft, obgleich er sie haßt.

    Eines Abends, es mochte gegen sieben Uhr sein, klopfte Maureen sanft an meine Tür.
    »Wie geht’s dir ?« wollte sie wissen. Es war das erste Mal seit Monaten, daß wir ein Wort miteinander wechselten. Auch hatte sie mich nie zuvor zu einer anderen Tageszeit als am Nachmittag besucht, nach Dienstschluß und bevor sie ihr Jüngstes abholen mußte.
    Sie trug ein kurzes, ärmelloses graues Kleid mit einem tiefen runden Ausschnitt, sehr wenig Kleid und sehr viel Ausschnitt, um genau zu sein. Die Vorderseite des Kleids war von zahlreichen Flecken, wohl vom Kochen und von der Kinderpflege, bedeckt. Sie trug keine Strümpfe, dafür aber hochhackige Schuhe, die mehr oder weniger zu ihrem Kleid paßten. Ihren Reif hatte sie abgelegt, und einige Strähnen fielen ihr in die Augen, so daß sie unter einem Vorhang von Haar zu mir hochblicken mußte. Ihre Hände hätten ein wenig Wasser und Seife vertragen, und sogar auf ihrem Gesicht glänzte ein kleiner Rußfleck.
    Es war Sommer, und ich trug nichts als Hemd und Hose.
    Ich ging auf sie zu, hielt sie fest und küßte sie, als wäre es das letzte Mal. »Fremder!« sagte Maureen zärtlich.
    Ich zog ihr das Kleid aus, ganz sanft, und schälte sie aus ihrer reizenden Unterwäsche.
    Wir legten uns auf mein Bett, das weder besonders romantisch noch ausgesprochen bequem war.
    »Und was ist mit dir?« fragte Maureen.
    So zog ich ebenfalls meine Sachen aus, die ich vollkommen vergessen hatte, und stellte ihre Schuhe sorgfältig nebeneinander vor das Bett.
    Wir waren drei oder vier Stunden zusammen, und lange, nachdem es dunkel geworden war, lauschten wir noch auf das Pochen unserer Herzen und auf die Geräusche der großen Stadt.
    Ich stellte ihr keine Fragen über ihren Mann oder ihre Kinder, und sie gab mir auch von sich aus keine Erklärungen; und als sie sagte: »Ich muß jetzt gehen«, war das Glück mir, oder besser uns, hold, denn Mr. Millar wanderte heute nicht von Raum zu Raum und zerknüllte auch keine Papierfetzen zwischen seinen fahrigen Händen und unterhielt erst recht keine Besucher. Ich hätte es ungern gesehen, wenn Mr. Millar beobachtet hätte, wie ich Maureen zum Abschied küßte.
    »Wann seh’ ich dich wieder?«
    »Das kann ich dir beim besten Willen nicht sagen. Wir müssen einfach für den Augenblick leben.«
    Erwachsenwerden! In dieser Beziehung lag noch einiges vor mir. Ich hatte womöglich gerade einen Rückfall erlitten und war in die glückliche Geborgenheit meiner Kindheit zurückgeschlüpft.

    Ich hatte bereits erwähnt, daß der leere Wirbel (oder das Trugbild), den Mr. Millars Leben darstellte, sich ständig zu steigern, eine zunehmend intensivere Färbung anzunehmen schien.
    Für mich erwies es sich als neues Ärgernis, daß Mr. Millar nun auch noch zu trinken begann. Lächerlich daran war, daß Männer unter spitzschirmigen Kappen unaufhörlich riesige Kisten billigen Fusels anlieferten. Bemerkenswert häufig klingelten diese Lieferanten an meiner Tür anstatt an jener der Herren Stallabrass, Hoskins und Cramp. Ich mußte mich dann regelmäßig die Treppen hinunterbemühen, vorbei an all den Männern in ihren Hosenträgern, die mich anstarrten, als hätten sie mich nie zuvor gesehen, vorbei an all den kichernden Büromädchen, nur um dann den Spießrutenlauf auf dem Rückweg erneut zu absolvieren - ganz der arme Trottel, der abermals auf einen schlechten Scherz hereingefallen war. (Mr. Millar blieb zumindest für mich während der Bürostunden beinahe unsichtbar. Eine Zeitlang fragte ich mich daher, ob er den Tag zum Schlafen nutze.) Ich habe die Spirituosen, die nun unablässig geliefert wurden, als ›billig‹ bezeichnet: Es handelte sich um Schnaps in Literflaschen und um Whisky, der weder aus Schottland noch aus Irland kam, mit grellbunten Flaschenetiketten.
    Beunruhigend an Mr. Millars neuer Neigung war, daß ich ihn jetzt bisweilen nicht mehr im Hausflur herumwandernd, sondern auf der Treppe ausgebreitet oder zusammengekauert vorfand, mit bleichem Gesicht und wirren Haaren, schwer atmend, und ein- oder zweimal waren auch seine Augen unnatürlich nach oben verdreht. Die Treppe roch dann meist nach Alkohol, oft auch das ganze Haus, obwohl ich Mr. Millar eigentlich nie mit einem Glas oder einer Flasche in der

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