Glockengeläut
zumindest teilweise erklären. Und diese Erklärung - soweit sie eben ging - konnte den Tatsachen entsprochen haben, was auch immer man sonst über die nächtlichen Besucher sagen oder vermuten konnte. Es fiel mir darüber hinaus auf, daß man Mr. Millar eigentlich nie mit anderen Leuten zusammen sah, ich meine mit Leuten, die man für seine Freunde hätte halten können. Man hätte meinen können, daß diese nächtlichen Besucher Freunde, vielleicht seine einzigen, waren. Und er behandelte sie auch sichtlich wie Freunde: mit derben Rippenstößen, schrägen Scherzen und einem grinsendem ›nach dir‹.
Wenn ich die Ereignisse nun im Rückblick betrachte, will es mir scheinen, als hätte sich alles langsam auf einen Höhepunkt hin gesteigert. In Mr. Millars Leben schien es nicht die geringste Beständigkeit zu geben: Man mußte bezweifeln, daß er regelmäßig schlief, regelmäßig Nahrung zu sich nahm, jemals denselben Bekannten ein zweites Mal sah, alles in allem also einen wie auch immer gearteten Rahmen für sein gehetztes Leben, irgendeine Art von grundlegender Gewohnheit hatte. Nichtdestoweniger schien sein dumpf-ekstatischer Lebenstanz, dessen Wirbel auch uns erfaßt hatte, sich in immer schnelleren Kreisen zu drehen, seinem Ziel und Höhepunkt entgegen zu taumeln, lächerlich und beängstigend zugleich, wie alles an Mr. Millar - und für mich immer peinlicher, immer störender.
Vermutlich sollte ich an dieser Stelle einige klärende Worte darüber verlieren, warum ich nicht baldigst auszog oder mich wenigstens früher nach einer anderen Wohnung umsah, als ich es dann schließlich tat.
Die Argumente, die ich gegen einen solchen Umzug anführen konnte, waren auch kaum anfechtbar. Ich konnte guten Gewissens behaupten, daß drei Zimmer in der Londoner Innenstadt zu einer solch moderaten Miete nur äußerst schwer zu finden waren und daß jeder, dem ich davon erzählte, mir riet, diese Wohnung, koste es was es wolle, zu behalten. (Nicht daß einer von ihnen auch nur geahnt hätte, was es mich tatsächlich kostete.) Zudem konnte ich auf meine dünne finanzielle Decke verweisen; jede auch nur im geringsten vermeidbare Veränderung meiner Lebensverhältnisse mußte unweigerlich zu meinen Ungunsten ausfallen. Ich hätte weiterhin vorbringen können, daß die Belästigung (oder Bedrohung), die von Mr. Millar ausging, keineswegs ohne Unterlaß bestand. Selbst zu jener Zeit, als sich seine Anwesenheit ihrem augenscheinlichen Ende zuneigte, gab es noch mehrere Abende in der Woche, an denen ich, abgesehen von Millars einsamen Rundgängen und Selbstgesprächen, frei von Ruhestörungen blieb. Schließlich bedrückte mich noch ein weiteres wichtiges Problem, hervorgerufen durch den starken, wenn auch meist wortlos ausgedrückten Wunsch meiner Mutter, mich wieder bei sich in ihrem Cottage zu wissen. Jede Schwäche, die ich in dieser Hinsicht zeigte, mochte dazu führen, daß ich am Ende mein eigenständiges Londoner Leben und die Freunde, welche ich mittlerweile gefunden hatte, gänzlich aufgeben würde. Es gab zwar nur wenige, aber ich fühlte, daß sie für mich von nahezu lebenserhaltender Bedeutung waren. Gleichwohl stellte Mr. Millar nach wie vor ein ernstes Problem dar.
All diese bis hierher angeführten Argumente hätten ausgereicht, die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen. Meines Erachtens gab jedoch letztlich etwas völlig anderes den Ausschlag. Es schien mir, als verabreichte Mr. Millar mir ein leicht lähmendes Serum, als spinne er mich mit beinahe unsichtbaren Fäden ein, fixiere mich in durchsichtig-starrer Lasur. Er engte meine Entscheidungsfreiheit ein, schwächte meine gesunde Urteilsfähigkeit, ganz zu schweigen von meiner temperamentsbedingten Zurückgezogenheit und Introvertiertheit, die zudem durch meine Erziehung in nicht unerheblichem Maße verstärkt worden war. Obwohl mich der bloße Gedanke an alles, was mit Mr. Millar zusammenhing, abstieß, erkannte ich doch, daß hier eine Erfahrung (oder eine Zerreißprobe) meiner harrte, die zu vermeiden nicht klug gewesen wäre. Ich konnte nicht immer wie ein Kind weiterleben, frei, unbeschwert, gleichsam ohne Gewicht. Denn in dem Maße, in dem wir in der Welt Gewicht erlangen, verlieren wir an Gewicht in uns selbst. Jeder Reifungsprozeß läuft in gewisser Weise auf eine Entleerung, auf eine Kontraktion hinaus. An diesen Maßstäben gemessen, war Mr. Millar, schwere- und wurzellos, fast ohne feste Gewohnheiten (einem Neugeborenen nicht unähnlich),
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