Gloriana
konnte, um wieviel schrecklicher mußte es dann in ihrem Reich zugehen, wieviel ungeahnte Rechtlosigkeit mußte es geben, wieviel versteckte Grausamkeit …
Ist dieses ganze Goldene Zeitalter nur ein Mythos, hinter dem
sich eine dunklere Wahrheit verbirgt? Nur eine schlauere Verkleidung zur Tarnung einer Wirklichkeit, die nicht weniger schlimm als meines Vaters schreckliches Eisernes Zeitalter ist? Schlimmer noch, denn dieses hat obendrein Heuchelei. Seit meiner Kindheit überzeugte Montfallcon mich, daß der Traum, wenn wir nur an ihn glaubten und danach handelten, bald Wirklichkeit werden müsse. Doch Tancred glaubte von allen am festesten an diesen Traum und wurde mehr als alle anderen von ihm zerstört, mag ihn sogar gebraucht haben, um seine Tat zu rechtfertigen. Ich erlaubte Montfallcon, daß er mir dieses Symbol schuf. Ich akzeptierte die Notwendigkeit. Und Albion gedieh, wurde heller und freundlicher, zog den Neid aller anderen Länder auf sich, brachte Gelehrte und ihre Weisheit ebenso hervor wie Kaufleute und ihren Handel.
Sollte alles das bloße Vergoldung sein, die bald abblättern muß, um das verfaulte Holz darunter zu enthüllen? Sind wir alle von diesen lieblichen Hirngespinsten Montfallcons und seiner Mitträumer verzaubert? Mein Vater war ein Zyniker, der nicht an Frömmigkeit, Ehrfurcht und Tugend glaubte. Errichte ich nun einen Mythos des Glücks, der nicht an Schlechtigkeit und Verbrechen glauben will? Ist die Folge der Menschenalter nicht mehr als eine hübsche Geschichte, uns zu ermutigen, uns leere Hoffnung zu bieten, der Versuch, eine grimmigere Wahrheit, als wir ertragen können, mit Lügen zu überdecken? Versuchen wir diese Form dem Chaos aufzuprägen, wie ein Kind mit dem Finger Formen und Gestalten in die mit Wasserlinsen bedeckte Oberfläche eines Teiches malt und bei der Rückkehr zu seiner Überraschung sieht, daß alle Spuren seines Spiels vergangen sind und die Wasserlinsen wieder eine geschlossene Decke bilden? Oder rahmen wir mit zusammengelegten Fingern einen Gewitterhimmel ein und glauben, daß wir die Elemente eingefangen und gezähmt hätten, weil wir unsere Sicht auf diesen kleinen Ausschnitt verengt haben?
Oder ist es Gloriana, die zu tadeln ist, unwürdig, das Zeitalter
zu verkörpern? »Oh, Mary! Mary! Mary!«
Die Gräfin von Scaith kam zu ihr, umarmte sie mit ihrem
kräftigen, jungenhaften Körper, streichelte und küßte sie.
»Still!«
»Oh, Mary!«
»Still, Majestät. Grämt Euch nicht, ich bitte Euch!«
»Ich war ihre Mutter. Sir Thomas Perrott vertraute sie mir an. Ich schwor, daß sie behütet und beschützt sein würde. Ich nahm ihre Tugend, ihre Jungfräulichkeit. Ich nahm ihre Unschuld. Ich erlaubte ihr diesen Umgang. Ich ermutigte ihn, genoß ihn. Und ich haßte ihn auch, konnte ihr aber diesen zärtlichen Sir Tancred auch nicht verweigern, denn sie schien so glücklich, und ich hatte …«
»Ihr habt Mary nichts genommen. Ihr habt gegeben. Ihr wart
großzügig, und sie liebte Euch dafür. Wie wir alle würde sie
alles für Euch getan haben, nicht weil Ihr die Königin seid,
sondern weil Ihr Gloriana seid.«
»Sir Tancred soll hängen!«
»Nein!«
»Hängen soll er!«
»Er soll nicht.«
»Er sollte …«
»Wo ist der Beweis, daß er Mary ermordete? Es gibt keinen.« Glorianas rotgeweinte Augen blickten auf. »Sein Degen.«
»Jeder, der sie töten wollte, kann die Waffe gebraucht haben. Was sagte Sir Tancred?«
»Lady Mary ist ermordet worden. Nicht viel mehr.«
»Hat er sich schuldig bekannt?«
»Er weinte bitterlich.«
»Sir Tancred ist unschuldig«, sagte Una mit unerschütterlicher Überzeugung. »Gebt lieber Montfallcon die Schuld. Gewalt liegt Tancred fern. Seine Begierde, sich in Eurem Namen mit jedem zu schlagen, der Euch beleidigt, ist ein Beweis dafür. Seine einzigen Erfahrungen hat er bei Turnier und Ringelstechen erworben. Er könnte niemanden töten. Wir beide haben das immer gewußt. Es ist der Grund, warum Ihr ihn zu Eurem ritterlichen Beschützer ernanntet. Ihr werdet Euch erinnern.« Gloriana nickte. »Das ist wahr.«
»Der Mörder ist einer von Rhoones Wachsoldaten, ein Mann mit einer Leidenschaft für Lady Mary. Ihr werdet entdecken, daß er da war. Die Bedienten werden verhört werden. Ich bin sicher, daß es ein Mann von der Wache war.«
»Aber an meinem Hof sollte kein Mord geschehen, Una!«
»Ein Mord ist geschehen. Der erste seit dreizehn Jahren. Und beinahe öffentlich. Nun, ich glaube, es gibt auf der ganzen Welt kein
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