Gloriana
wankte Sir Tancred. Er trug keinen goldenen Helm und hatte die phantasievolle goldene Rü stung nur zur Hälfte angelegt und befestigt. Lose hängende Teile baumelten an ihren Riemen und klapperten zu seinen Bewegungen.
Lady Lysts hohem, spitzem Aufschrei folgten andere aus den Reihen der Hofgesellschaft.
»Sir Tancred!« Die Königin suchte sich aus der Umwicklung der Seidenbänder zu befreien, aber sie war unfähig zu jeder Bewegung.
Sir Tancreds goldene Rüstung war blutig verschmiert. Blut war auch in seinem Gesicht, an seinem Schnurrbart und an den Händen. Sein Blick war stier, und der Mund stand offen, als hätte der Schmerz ihn stumm gemacht.
Die Gräfin von Scaith erreichte ihn als erste, ergriff ihn beim Arm. »Sir Tancred! Was ist geschehen?«
Der Held der Maikönigin stöhnte auf und stieß mit dumpfer, erstickter Stimme Worte hervor. »Sie ist tot«, ächzte er. »Die Lady Mary. Ich habe … Ich bin gekommen … Oh, sie ist ermordet worden!«
»Befreit mich!« rief Gloriana und warf sich in ihre Fesseln, daß der gewaltige Maibaum schwankte. »So befreie mich jemand!«
DAS SIEBZEHNTE KAPITEL
Lord Montfallcon beginnt eine Wiederkehr der alten Schrecken zu fürchten, und die Königin stellt den Wert des Tugendmythos in Frage
»Dreizehn Jahre ist es her«, sagte Lord Montfallcon abwesend, »seit ich soviel Blut gesehen habe.«
Er blickte hinab auf Lady Mary Perrotts Kopf, den Sir Tancreds Degen im Nacken halb abgetrennt hatte, und er war traurig, nicht um der jungen Frau willen, die so schrecklich den Tod gefunden hatte, noch auch für Sir Tancred in seiner Sünde, sondern ihn bangte um die Sicherheit seines großen Traumes. Unter der Verkleidung von Ritterlichkeit war Verderbtheit entdeckt worden, und er war voll Zorn über den Mörder und die Ermordete, welche in solch unheilvoller Weise eine Harmonie störten, die er seit Glorianas Thronbesteigung mit viel Mut und Seelenstärke aufrechterhalten hatte.
Lord Ingleborough, schnaufend in seiner zeremoniellen Tracht mit Helm und Brustharnisch, die ihn gefährlich beengte und einen weiteren Herzanfall über ihn zu bringen drohte, fragte in fortdauernder Ungewißheit über das, was stattgefunden hatte: »Warum sollte Sir Tancred sie umbringen? Freilich, oft ist es Eifersucht, die einen Mann verrückt macht …« Montfallcon fiel es schwer, die Plattheiten seines alten Freundes zu ertragen. »Ich muß der Königin Bericht erstatten. Ist Sir Tancred in Gewahrsam?« »Lord Rhoone hat sich seiner angenommen.« »Er muß befragt werden.«
»Er ist verrückt.« Ingleborough setzte sich schwerfällig auf einen der wenigen Stühle, die noch aufrecht standen, denn Lady Marys Zimmer bot einen chaotischen Anblick. »Ach, das arme Kind. Und so fröhlich. Die Königin war ihr besonders
zugetan. Ah – wo ist die Königin?«
»In ihren Gemächern«, sagte Lord Montfallcon seufzend. »Die Gräfin wird sie trösten, denke ich. Die Perrotts sind eine der mächtigsten Familien im Land. Sie werden mehr als eine konventionelle Erklärung dessen verlangen, was hier geschehen ist.«
»Wir werden ihn vor Gericht stellen, wie? Im alten Saal des Halsgerichts.« Ingleborough wischte sich die Stirn. Er schwitzte, fieberte vielleicht.
»Wenn die Königin es gestattet. Aber ich sehe nicht, wozu eine übermäßige Bestrafung gut sein sollte. Er kann in Brans Turm eingesperrt werden, wo Prinz Lamartis ist – und die beiden Edelleute, die der Thane von Hermiston uns brachte.« »Aber Tancred ist kein ausländischer Wirrkopf.«
»Brans Turm. Das ist das Beste«, sagte Montfallcon fest.
»Wenn er schuldig ist.« Ingleborough bückte sich grunzend und versuchte den Degen aufzuheben, doch die Waffe entglitt seiner Hand und fiel zurück auf den blutgetränkten Damast von Marys Kleid.
»Wer sonst?« sagte Montfallcon. »In Herns Zeit hätte es vielleicht hundert Verdächtige gegeben. Jetzt gibt es keinen. Ich fürchte mich, Lisuarte.« Mit einem letzten mißbilligenden Blick auf den Leichnam des Mädchens schickte Lord Montfallcon sich an, die Wohnung zu verlassen, ein überlebendes Schiff, das nach einer Seeschlacht durch die treibenden Trümmer segelt. Ingleborough folgte ihm schwerfällig, müde und geschlagen.
»Ihr fühlt Euch unwohl.« Lord Montfallcon gab seinem Freund den Arm und stützte ihn. Sie standen im Korridor, wo der grüngekleidete Patch wie ein kleiner Faun auf sie wartete. »Patch, bring deinen Herrn heim. Schlaf, Lisuarte. Sei energisch mit ihm, Patch.«
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