Gloriana
heben. Nun galt es nur noch, seine kleine Alys Finch zu finden, seine zuverlässige Helferin.
DAS DREISSIGSTE KAPITEL
In welchem die Königin und Kapitän Quire auf die Jagd gehen
Der lange Sommer drückte auch dem Herbst noch seinen freundlichen Stempel auf, so daß der Oktober in diesem dreizehnten Jahr von Glorianas Regierung der wärmste war, den es seit Menschengedenken gegeben hatte. Die Ernte war eingebracht, und die Tage waren sonnig und so still, daß man die bunten Blätter hören konnte, wie sie niederfielen. Keine Brise erhob sich, die Kriegsgefahr davonzublasen, und Glorianas Inbrunst für ihren kleinwüchsigen Liebhaber war nicht abgekühlt. Die Stimmung beschwingter Euphorie, die den Hof erfaßt hatte, verstärkte sich womöglich noch, zumindest im privaten Bereich, während zornige Gesandte ungeduldig durch Korridore und Audienzsäle stapften und immer sorgenvollere Mienen zur Schau trugen, da ihre Herren und Auftraggeber auf Resultate drängten und die Spionage mehr und mehr von Gerüchten, Klatsch und Lügengeschichten (die seit Quires Erscheinen im Palast um das Hundertfache zugenommen hatten) abhängig wurde. Die Gesandten wünschten hauptsächlich beschwichtigende Zusicherungen der Königin, um ihre Regierungen vom Friedenswillen Albions unterrichten zu können, da sie sich aber außerstande sahen, solche Nachrichten zu liefern, vermochten sie nichts gegen das leichtfertige Gerede von Flotten und Armeen, Kanonen und Kavallerie, gegen die Autorität präzise klingender Begriffe, welche die häßlichen und lächerlichen Tatsachen des Chaos bemäntelten, die zu beschreiben sie vorgaben. Landkarten wurden ausgebreitet und Papierflotten mit dem üblichen albernen Ritual zu Wasser gelassen, und vernünftige Männer blickten verzweifelt zu Gloriana auf, erhofften den königlichen, mütterlichen Befehl, das Spielzeug wegzuräumen,
bevor aus dem hitzigen Spiel Ernst wurde.
Albions Hofadel mischte sich unter die Gesandten, verunsichert und zänkisch, in steter Erwartung von Anweisungen, die nicht kamen, verzagt und entmutigt durch Stimmung und Verhalten der Königin, die nur noch selten Audienzen gab, und dann mit solch offenkundigem Desinteresse, daß sie verschlimmerte, was Stillschweigen und Untätigkeit begonnen hatten. Das Imperium, gegründet auf einen großartigen Mythos, brauchte die Erhaltung dieses Mythos, wenn es nicht zerfallen sollte. Es gab viele im Palast, die den Zerfall bereits eingeleitet sahen und davon sprachen, daß Herns schlechtes Blut endlich zum Vorschein komme, und sie flüsterten Geschichten über die monströsen Gelüste der Königin und das legendäre Serail, wo Nacht für Nacht Schauspiele inszeniert wurden, neben denen die Ausschweifungen zu König Herns Zeit sich wie gutherzige, unschuldige Possen ausnahmen. Doch nur Montfallcon und einige wenige Anhänger sahen Quire als den Drahtzieher all dieser Erscheinungen. Wenn er sich zeigte, stellte er sich als ein Mann dar, der die Königin an ihre Pflichten zu erinnern suchte und keinen Erfolg damit hatte. Er war, so erzählte er ihnen, ebenso besorgt wie sie selbst, denn sie müßten wissen, wie sehr er vom romantischen Geist Albions erfüllt sei – schließlich habe er es diesem zu verdanken, daß er die Königin gefunden. So hielten sie ihn für einen freundlichen, leichtgläubigen Gimpel der Königin, ein Beruhigungsmittel für ihr gequältes Gewissen, und sagten, daß es gut für sie alle sein möchte, wenn, wie Montfallcon phantasierte, Quire sie tatsächlich beherrschte, weil er letzten Endes den besseren Monarchen abgeben würde.
Die bekannten Zugänge in die Wände waren auf Befehl der Königin geschlossen und vermauert worden, und sie erwog Pläne zur Zerstörung oder Zuschüttung der Gänge und der verlassenen unteren Schichten. Sie gab Montfallcon die Schuld am Tode des Virginiers, der ihrem Herzen nahegestanden hatte, und sie machte ihn für die anderen Todesfälle verantwortlich: für den Tod des Soldaten der Stadtwache, der einen Tag nach der Rückkehr der Expedition irgendwie seinen geringfügigen Verletzungen erlegen war. Montfallcon war in Ungnade. Sie empfing ihn überhaupt nicht mehr. Wenn er Nachrichten und Instruktionen von ihr empfing, dann geschah es durch Mittelsmänner wie Sir Orlando Hawes und Sir Vivien Rich, die nicht so offen gegen Quire Partei nahmen und, wie es schien, allmählich Tom Ffynnes Beurteilung ihres Liebhabers zu übernehmen schienen: »Eher ein Glückspilz als ein kluger Kopf,
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