Glück, ich sehe dich anders
hatten sie die Möglichkeit, Loreen bei der Krankengymnastik zuzusehen. Oma Karin war sehr berührt von Loreens Wein- und Schreikrämpfen während des Turnens -sie wurde nach einer Gymnastik namens Vojta behandelt. Es war nun mal keine gewöhnliche Hausfrauengymnastik, sondern anstrengende schrei- und weinkrampfauslösende Gymnastik, die auch zu Hause dreimal täglich an Loreen durchgeführt werden musste. Meine Schwiegermutter hatte sich vorher nicht vorstellen können, dass die Therapie Loreen so viel Kraft kostete.
Ich gab unseren nächsten Verwandten jetzt auch die Möglichkeit, Louise zu den ambulanten Kontrollen zur Kinderkrebsklinik zu begleiten, damit sie einen Einblick in diese belastenden Situationen bekamen. Die ambulanten so genannten Lumbalpunktionen waren sehr unangenehm. Louise wurde von einer Krankenschwester von hinten mit einem speziellen Griff festgehalten, sodass sie sich nicht mehr rühren konnte, der Oberkörper wurde nach vorn gekippt, und ohne Betäubung wurde ihr mit einer dicken Nadel in den Rücken gepiekst. Von dort wurde eine Hirnwasserprobe entnommen und gleichzeitig ein Medikament hineingespritzt, welches – eher vorbeugend – Leukämiezellen im Gehirnwasser beseitigen sollte. Louise schrie jedes Mal furchtbar. Das Schreien war eigentlich nicht auf den »Rückenpieks« zurückzuführen. Sie schrie bereits, wenn sie von der Krankenschwester festgehalten wurde.
Auch die Fotos von Louises kaputtem Mund, eine der Nebenwirkungen der Therapie, enthielten wir unseren Familien und Freunden nicht vor. Sie hatten ja keine Ahnung, wie schmerzhaft das war. Sie stellten sich vor, dass die Lippen und die Mundwinkel ein wenig eingerissen waren oder der Mund etwas gerötet war, ähnlich wie bei einer Mandelentzündung. Was sie aber dann von den tatsächlichen Mund-kaputt-Geschichten sehen konnten, von denen wir ihnen immer berichtet hatten, verschlug ihnen die Sprache.
Dennoch begriff auch ich selbst erst richtig, dass Louise ein »Krebskind« war, als ihre Haare ausfielen. Jeden Morgen lagen auf ihrem Kissen Haare. Der Ausfall wurde von Tag zu Tag stärker. Wenn Louise sich in die Haare fasste, hatte sie gleich büschelweise welche in der Hand. »Ohhh!«, rief sie dann überrascht. Louise hatte bald viele kahle Stellen, nur wenige lange Strähnen waren noch auf dem Kopf. Jetzt sah sie richtig krank aus. Wir beschlossen, die Haare ganz abzuschneiden. Heike, eine Bekannte von uns, die das Friseurhandwerk beherrschte, schnitt die restlichen Haare ab und rasierte Louises Kopf. Danach sah Louise gut aus, wie ein geschorenes Schäfchen. Es fiel Heike schwer, Louise die Haare zu rasieren, ihr die letzten Haare zu nehmen, aber es war besser so.
Wir mussten mal tage-, mal wochenlange Aufenthalte in der Klinik über uns ergehen lassen, weil Louise so heftig unter den Nebenwirkungen der Chemotherapie und der Medikamente litt. Ständig waren bei ihr die Mundschleimhäute sowie Speiseröhre und Magen- und Darmbereich von den Arzneien stark angegriffen. Sie hatte Pseudokrupp, denn auch ihre Atemwege waren von der Chemo in Mitleidenschaft gezogen. Sie hustete viel, musste täglich mehrmals inhalieren. Sie blutete am Zahnfleisch, hatte viele Herpesbläschen im und am Mund, die sich manchmal bis zur Nase und den Augen hochzogen. Das ganze Gesicht war dann aufgequollen und dick angeschwollen, sodass sie den Mund nicht mehr schließen konnte und die Zunge heraushing. Louise musste aufgrund solch einer Herpesinfektion einmal fast zwei Wochen lang auf der Station verbringen. Sie sah elend aus, hatte hohes Fieber. Wir und auch die Ärzte waren sehr besorgt. Erst später wurde mir klar, wie schlecht es Louise während dieser Zeit gegangen war, denn ein kleiner Spielgefährte von ihr starb sogar an den Folgen einer Herpesinfektion.
Bei nicht behinderten Kindern waren die Nebenwirkungen einer Chemo nicht so stark ausgeprägt. Es lag bei Louise eben auch an ihrer Grunderkrankung, dass sie solche Beschwerden hatte. Sie brachte von vornherein ein schwaches Immunsystem und einen gestörten Stoffwechsel mit, was die Nebenwirkungen verstärkte und Louise anfälliger werden ließ.
Ich war froh, als ich erfuhr, dass wir Louises dritten Geburtstag zu Hause verbringen konnten. Wir feierten zu viert. Es zählte nur, dass wir vier zusammen waren.
Louise hatte ihre Schwester Loreen bei jedem Klinikaufenthalt sehr vermisst. Diesmal sprang sie aus dem Auto und lief Loreen mit ausgestreckten Armen entgegen. Sie rief: »Meine Loreen,
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