Glück, ich sehe dich anders
alles nahm ihn mit. Rolf wurde schließlich arbeitsunfähig geschrieben. Er galt auf dem Arbeitsmarkt zunächst nicht mehr als vermittelbar.
Unser Mädchen stand dem Tod ganz nahe. Immer wieder fragte ich mich, was wäre, wenn sie zu den zwanzig Prozent derer gehörte, die nicht überlebten? Wäre es nicht einfacher gewesen, sie wäre durch einen plötzlichen Unfall ums Leben gekommen? Jetzt quälte sie sich so sehr. Sollte sie diese Leiden auf sich nehmen, und am Ende war die Krankheit doch stärker? Dann hätte man ihr all die Schmerzen doch ersparen können.
Nein, so durften wir nicht denken. Niemand wusste, wie das alles ausgehen würde. Louise war schon immer eine Kämpferin gewesen, und wir mussten jetzt die Nerven behalten.
Die deprimierenden Erlebnisse auf der Kinderkrebsstation machten uns die Zeit nicht leichter. Wir erlebten, wie Kinder und Eltern am Rande ihrer Kräfte waren. Wir sahen, wie Kinder starben.
Die Mitarbeiter der Klinik versuchten natürlich, den Patienten und Angehörigen die Zeit in der Klinik so angenehm wie möglich zu gestalten. Eine Therapeutin malte, eine andere bastelte mit den Kindern, und ein Musiktherapeut sang Lieder für sie oder spielte Instrumente mit ihnen.
Der Musiker Gerhard – von Louise Gerd genannt – war der Einzige, der sie aus ihrer Trotzreaktion herausholen konnte. Er legte ihr große Trommeln ins Gitterbett und Schlagstöcke. Und Louise nahm diese und schlug kräftig und laut auf die Trommeln. Sie trommelte ihren ganzen Frust aus sich heraus. Ihre Augen waren dabei weit aufgerissen. Es war so schön, sie in ihrem Element zu sehen, denn Musik hatte sie schon immer begeistert. Ich war endlich mal wieder für einen Moment richtig glücklich. Gleich am nächsten Tag kaufte ich Bongo-Trommeln und brachte sie ihr ins Krankenhaus. Unsere Tochter war begeistert und schlug mal mit den Händen, mal mit Schlagstöcken darauf. Die Bongos wurden zu ihren ständigen Begleitern, sie waren bei jedem längeren Stationsaufenthalt dabei.
BALDRIAN UND OHRSTÖPSEL
D ie Zeit der Intensiv-Chemo war eine einzige Qual. Die Kinderkrebsstation befand sich gerade im Umbau, so-dass alle Patienten notdürftig auf einer Behelfsstation untergebracht waren. Dort gab es für alle Eltern zusammen lediglich eine einzige Dusche ohne Fenster und eine einzige Toilette, ebenfalls ohne Fenster. Die hygienischen Zustände empfand ich persönlich teilweise als eine Katastrophe, aber eine Schwester klärte mich auf, dass Staubwölkchen kein Risiko für die Patienten darstellen würden, sondern herumfliegende Bakterien, die man gar nicht sehen könne.
Viel Platz für die Unterbringung der Patienten und der Eltern war nicht vorhanden. Manche Zimmer waren mit drei Kindern und drei Erwachsenen belegt, manchmal waren die Betten so dicht nebeneinander gestellt, dass nicht einmal mehr eine Zeitung dazwischen gepasst hätte. Man musste aufpassen, dass man nicht mit der Nase über dem Mülleimer schlief. Die Infusionsständer standen völlig chaotisch im Zimmer herum, nachts piepten die medizinischen Geräte, und regelmäßig kamen Schwestern ins Zimmer und leuchteten mit Taschenlampen, um die Geräte zu kontrollieren und nach den Patienten zu sehen. Es waren nicht nur Sorgen mit dem eigenen Kind, man kam auch deshalb nicht zur Ruhe, weil es anderen kleinen Patienten schlecht ging. Sie weinten vor Schmerzen oder erbrachen sich. Der allabendliche Griff zu Baldriandose und Ohrstöpseln war schon Routine.
Immer musste man Geduld aufbringen, Verständnis für alles zeigen und vor allen Dingen viel Zeit mitbringen. Ich war aber manchmal sehr ungeduldig, vor allem, wenn wir für ein paar Tage nach Hause entlassen wurden. Der Entlassungsvorgang konnte schon mal Stunden dauern. Selbst für ein Rezept wartete man oft bis zu einer Stunde, weil die Ärzte gerade in einer Besprechung waren oder Ähnliches. Ich hatte dafür kein Verständnis, denn für mich zählte jede Minute, jede Sekunde, die ich mit meiner Familie außerhalb des Krankenhausgeländes verbringen konnte.
Mussten wir in die Klinik, weil Louise unter heftigen Nebenwirkungen litt, kam es nicht nur einmal vor, dass kein Platz auf der Kinderkrebsstation war und wir auf einer anderen Kinderstation untergebracht wurden. Völlig isoliert von der Außenwelt. Eingesperrt in einem Einzelzimmer. Louise saß in ihrem Gitterbett wie ein Affe im Käfig. Wenn meine Nachtliege aufgeklappt war, war noch ein halber Meter Platz zwischen beiden Betten. Louise durfte nicht
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