Glück, ich sehe dich anders
dachte ich.
Die Warteräume vor dem OP kamen mir vor wie eine eigene kleine Welt: Schleusen werden mit Hilfe von Geheimcodes geöffnet, die nur Ärzte und Schwestern kennen. Wie grüne Marsmännchen laufen die Pflegerinnen und Pfleger umher. Irgendwie erscheint alles sehr ruhig und gelassen.
Plötzlich wurde ein kleines Mädchen hereingeschoben, ungefähr zwei Jahre alt. Sie wachte auf, wimmerte, weinte, rief nach ihrer Mama. Eine Schwester kümmerte sich um das Kind. Später erfuhr ich, dass das Kind eine Bluterkrankung hatte – wie seine beiden Geschwister.
Dann kam Louise in den Aufwachraum. Sie hatten eine Lumbalpunktion durchgeführt, bei der Gehirnwasser entnommen und gleichzeitig etwas vom Chemomedikament eingespritzt wird. Als Louise aufwachte, brüllte sie sofort los. Sie wollte in ihr Zimmer. Sie beruhigte sich kaum, zitterte am ganzen Körper. Die Schwester erzählte mir, dass Louise noch lange im Vorraum hatte warten müssen – fast zwei Stunden, bis sie in den OP geschoben wurde. Sie hatte diese Zeit mit wildfremden Personen verbringen müssen, die versuchten, ihr einen Zugang zu legen. Arme, Hände, Beine, alles war zerstochen. Welche Angst musste Louise in diesen Stunden gehabt haben?
Eine Stunde nach der Lumbalpunktion sollte Louise Folsäure gespritzt werden, die dafür sorgt, dass der Mund nicht ganz so wund wird. Rolf und ich haben schon bei vorhergehenden Chemobehandlungen Louises oft darauf hinweisen müssen, aber diesmal half weder ein Hinweis auf diese Maßnahme noch Bitten oder Betteln. Ich wurde endgültig wütend – und lauter! Es reichte!
Schließlich stellte sich heraus, dass man auf der OP-Station die Folsäure nicht vorrätig hatte. Ich schlug vor, dass man sie sich dann eben von der Krebsstation besorgen müsse, damit man Louise so bald wie möglich die Spritze geben könne. Die Zeit drängte! Aber die Schwester war nicht bereit, auf der anderen Station anzurufen, das würde nur Hektik verbreiten. Es würde reichen, wenn Louise die Folsäure später bekomme, wenn sie zurück auf der Krebsstation sei. Ich fragte mich, was diese Schwester sich dachte. Hatte sie denn keine Ahnung, wie wund ein Kindermund werden kann? Ich bat energisch darum, Louise so schnell wie möglich auf die Kinderkrebsstation zu verlegen. Die Augen verdrehend, organisierte die Schwester den Transport Louises.
Der Aufwachraum füllte sich inzwischen. Neben Louise lag ein älterer Mann, der röchelte und keuchte. Die Schwestern unterhielten sich lautstark über die Prostata des Mannes, der kurz zuvor operiert worden war. Dabei hob und senkte sich die leichte Decke vom schweren Atmen des Patienten, bis plötzlich sein schlaffer und wenig gesund aussehender Perus darunter zum Vorschein kam. Keine der Schwestern kümmerte sich darum.
Ein anderer Patient, der beinahe aus dem Bett fiel, wurde trotz Protest kurzerhand festgebunden. Zu seiner eigenen Sicherheit, versteht sich.
Zwei Stunden nach der Punktion erhielt Louise endlich auf der Kinderkrebsstation die Folsäure-Spritze, und wir beteten, dass der Mund nicht wund werde. Dass es mal wieder zu einigen Pannen kam, interessierte niemanden, und zur Rechenschaft gezogen wurde auch niemand.
Jetzt hatte Louise wieder ihren Port, eine Art Kapsel unter der Haut, durch die die Infusionen liefen. Geplant waren neun lange Monate Intensivtherapie, das bedeutete: ungefähr alle drei Wochen für fünf Tage zur Chemo ins Krankenhaus. Darüber hinaus würden wir sicherlich noch einige Male wegen starker Nebenwirkungen hierher müssen. So wie jetzt? Fünf lange Wochen lagen hinter uns, davon vier auf Station, eine zu Hause.
Ich durfte mir das gar nicht ausmalen! Wir mussten jeden Tag neu beginnen, uns Schritt für Schritt unserem Ziel nähern und jeden Tag zu Hause intensiv genießen, sonst war das nicht auszuhalten.
DAS LEBEN GEHT WEITER
F ür Loreen bekamen wir einen Zivi, der sie morgens zu Hause abholte und zum Kindergarten brachte. Mittags fuhr er sie nach Hause oder zu Oma Karin. Marcus machte seine Arbeit hervorragend, und Loreen liebte ihn. Selbst an den Wochenenden stand sie vorn vor der Tür und wartete auf ihren »Makutsss«.
Loreen war sehr anhänglich, wich nicht von unserer Seite. Vielleicht befürchtete sie, sie würde auch noch weggebracht. So wie Louise ins Krankenhaus gebracht wurde und wochenlang nicht nach Hause kam. Loreen klammerte sich an meinen Oberschenkel, ging nur an meiner Hand durchs Haus. Sie brauchte viel Nähe. Jeden Abend gab es eine
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