Glück, ich sehe dich anders
mir, dass sie unter Druck gesetzt werde. Das Jugendamt stelle ihr keine Betreuung zur Verfügung, während sie ihre behinderte und leukämiekranke Tochter im Krankenhaus beaufsichtige. Somit seien die anderen Kinder allein zu Hause. Aber man stelle ihr auch keine Betreuung für die Tochter im Krankenhaus zur Verfügung, sodass sie für die anderen Kinder sorgen könne. Das Ende vom Lied sei, dass man ihr die behinderte und erkrankte Tochter wegnehmen wolle.
Wie Pippi Langstrumpf lag die Mutter mit Stiefeln in dem Elternbett, schlief meist ein, während im Fernseher eine Talkshow lief. Einer der Brüder des kleinen Mädchens war beinahe rund um die Uhr da, schwänzte auch mal die Schule, um bei seiner Schwester sein zu können. Der Junge roch nicht gut. Seine Schuhe stanken nach Hundekot. Aber statt die Nase zu rümpfen und über ihn zu schimpfen, gab ich ihm mein Duschgel und schickte ihn unter die Dusche. Auch seine Klamotten wusch ich durch und bat ihn, seine Schuhe auf die Terrasse zu stellen. Artig machte er das alles und stand eine Stunde lang unter der Dusche. Danach kam er strahlend und duftend ins Zimmer zurück.
Der Bruder des Mädchens sagt zu mir: »Hoffentlich nehmen sie uns meine kleine Schwester nicht weg. Wir möchten das Sorgerecht behalten. Wir tun alles dafür.«
Er schien ein lieber Kerl zu sein.
Als auf der Station ein Geldbeutel verschwand, hieß es, das seien natürlich »die Asozialen« gewesen. Als aus dem Kühlschrank die Wochenration Wurst und Käse vermisst wurde, konnten das natürlich ebenfalls nur »die Asozialen« gewesen sein.
Außer uns und der Alleinerziehenden war noch eine Mutter mit ihrem Kind auf unserem Zimmer. Das Kind schrie jede halbe Stunde wegen etwas anderem. Ging dem Kind das Vorspulen der Hörkassette nicht schnell genug oder schmierte die Mutter nicht sofort das gewünschte Brot, jaulte und jammerte es sirenenartig in einer Lautstärke, dass Louise sich die Ohren zuhielt. Irgendwann reichte es Louise! Sie fauchte das Kind an: »Mann, sei mal leise. Hör auf zu heulen!« Louise brachte es mal wieder auf den Punkt.
Louise war geduldig und tapfer. Sie hätte sich nicht erlaubt, mich zu bevormunden. Sie ertrug ihren Schmerz und ihr Leid. Sie suchte nur meine Wärme und Nähe.
Eine Mutter, mit der wir einmal das Zimmer teilten, sagte, sie finde es umwerfend, wie Louise alles meistere und welch tolle Art sie habe. Sie finde es überhaupt schön, dass wir zusammen in einem Zimmer waren. Sie sagte, sie habe viel von Louise gelernt. Es sei so angenehm, sie um sich zu haben. Sie beneide uns.
Das gab es auch. Jemand beneidete uns um unser Kind.
Ich erwiderte aus vollem Herzen: »Ich bin stolz auf meine Kinder!«
Ein anderes dreijähriges Kind hatte von seiner Oma eine goldene Krone bekommen. Louise fragte, ob sie die auch einmal aufsetzen dürfe. Da sagt die Oma: »Aber die Krone ist ja noch ganz neu. Wenn sie etwas abgenutzt ist, dann darfst du sie auch einmal aufsetzen!«
Oh ja, natürlich, das Prinzesschen muss die Krone erst benutzen, und dann kommt »die zweite Klasse« dran.
Louises Verhalten war die Ausnahme. Alle anderen Mädchen und Jungen im Alter zwischen drei und sechs, die wir im Krankenhaus kennen lernten, jammerten und weinten viel und waren oft bockig. Ihre Wut über ihre Krankheit und die Situation im Krankenhaus ließen sie an ihren Eltern aus.
Louise war anders. Sie weinte selten. Einmal kullerte eine kleine Träne aus ihrem Auge, als ein Arzt dreimal zustechen musste, um ihren Portzugang unter der Haut zu finden. Er schaffte es beim ersten Mal nicht, beim zweiten Mal nicht, beim dritten Mal nicht. Louise hielt still, schrie nicht, jammerte nicht. Sie sah mich an, und nur diese eine Träne kullerte über ihr Gesicht.
Ein Junge, mit dem Louise das Zimmer teilte, wollte ständig seine Bob-der-Baumeister-Verwöhn-Kassette hören, sogar nachts, weil er sonst nicht schlafen konnte. Als die erste Seite der Kassette abgespielt war, ertönte ein sirenenartiges Geheule, und der Junge jammerte so lange, bis die Mutter die Kassette umgedreht hatte. Zum hundertsten Male ertönten die Stimmen von der Kassette: »Bauarbeiter, können wir das schaffen? – Ja, wir schaffen das!«
Ich fand das Verhalten des Kindes unmöglich. Krebs hin oder her, das muss nicht sein, das müssen die Eltern doch unterbinden. Louise wurde von dem Gejammere ebenfalls wach. Um drei Uhr nachts, nach dem x-ten Umdrehen der Kassette, begleitet von Kindergebrüll, schob ich Louise mit dem
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