Glück, ich sehe dich anders
still auf dem Rücken liegen. Wir dürften nicht mit im Raum bleiben.
Wie sollten wir das unserem Kind erklären?
Wenn sie nicht still liegen bleibe, müsse sie jedes Mal narkotisiert werden.
Da die Sonne zurzeit »im Ürblaub« war – wie Louise gern bemerkte -, wäre es eine Freude für sie gewesen, die Sonnenstrahlen sehen zu können. Wir überlegten uns, Louise zu erklären, dass die Sonnenstrahlen in dem Kasten seien und sie die Sonne dann sehen könne, wenn sie die Maske aufsetze und ganz ruhig liegen bleibe. Doch noch war es nicht so weit, wir wollten Louise erst vorbereiten, wenn es tatsächlich nötig war.
Kurz vor Weihnachten im Jahr 2003 stand erst einmal die vorletzte Chemo an. Und wieder machten wir uns solche Sorgen, ob danach immer noch ein paar Zellen irgendwo in Louises Körper schlummerten, die wieder zu einem Ausbruch und einer Verbreitung im Knochenmark führen würden.
Ich wollte mir nicht vorstellen, dass Louise eines Tages nicht mehr da sein könnte.
Liehe Louise,
du bist nicht nur eine wunderbare Tochter, du bist auch eine so gute Freundin für mich. Mit niemandem sonst kann ich abends Arm in Arm auf dem Sofa sitzen und während des Fernsehens eine Tüte Chips leeren. Mit niemandem sonst kann ich so lustig in der Badewanne mit Schaum herumspritzen. Mit niemandem sonst kann ich im Restaurant sitzen, dich einfach nur ansehen und bewundern und mir bei deinem Anblick die Zeit Vertreiben. Nur du kannst mich so gut trösten, wenn es mir schlecht geht.
Ich fragte die Ärztin, ob Louise Weihnachten überhaupt noch bei uns sei, die Blutwerte waren sehr schlecht. Doch die Ärztin konnte mir darauf keine Antwort geben.
Die Ärzte überlegten, ob es vielleicht doch sinnvoller sein würde, Loreens Knochenmark zu transplantieren. Sie telefonierten mit Kollegen in der ganzen Welt. Ich hatte Angst vor dem Tag, an dem sie uns sagen, dass sie nichts mehr für Louise tun können. Ich hatte Angst vor dem Tag, an dem der Arzt nur noch stumm nickte, weil er uns eine schreckliche Wahrheit mitzuteilen hatte.
Ich sehnte den Tag herbei, an dem wir alle vier die Klinik verlassen würden, Louise vielleicht mit Knochenmark von ihrer Schwester Loreen … und alles würde endlich gut. Das Wunder von Lüdersbüttel wäre dann geschehen.
SIGNALE
A uf einer meiner langen Autofahrten auf der A 23 überquerte ich wie so oft die Autobahnbrücke über den Nord-Ost-See-Kanal. Hinter der Brücke standen in der Ferne auf einem großen Feld Windkraftanlagen. Ich zählte sie nie. Vielleicht waren es acht oder zehn. Ich betrachtete jedes Mal die Flügel der Windräder, und es war, als würde mir der Flügelschlag unseren momentanen Zustand beschreiben. Drehten sich die Räder eilig im Wind, lief bei uns alles gut. Bewegten sie sich langsam, ging auch bei uns nicht alles so gut voran. Nur einmal erlebte ich es, dass sie stillstanden. Beim Näherkommen bemerkte ich jedoch, dass sich eine Mühle doch ganz bedächtig drehte. Ein gespenstischer Anblick.
Als ich in der Kinderkrebsklinik angekommen war, befand sich Louise in einem erbärmlichen Zustand.
Man sucht wohl gerade in solch ungewissen Zeiten nach sicheren Zeichen …
Ich träume in einer der folgenden Nächte, dass Rolf und ich auf einen Friedhof gehen. Dort waren die Gräber so angelegt wie die Zimmer auf der Kinderkrebsstation. Immer drei Kinder lagen in einem Grab. Ich schrie im Traum, weil ich nicht wollte, dass Louise auch hier noch mit anderen die Unterkunft teilen muss.
Ein anderes Mal träumte ich, dass ich eine Brücke überquerte. Als ich die Hälfte geschafft hatte, bewegte sich die Brücke, sie wurde steiler und steiler. Ich versuchte hochzuklettern, zu laufen, aber ich kam nicht von der Stelle.
In einer Nacht träumte ich dann, dass ich über große schwarze Wasserlöcher flöge. Doch auf einmal fiel ich, ich stürzte direkt auf ein Wasserloch zu. Kurz bevor ich aufschlug, hob ich wieder ab und flog weiter.
Viele Träume holten mich in dieser Zeit ein. Einmal lief ich auf einem Seil, unter mir war nur Abgrund. Rolf war schon auf der anderen Seite angekommen. Mit großer Leichtigkeit war er hinübergelaufen. Ich aber zitterte und schwankte und kam nur schleppend voran.
In einem Traum hatte ich einen großen Fluss überquert. Gerade als ich ans andere Ufer wollte, bildete sich ein neuer Fluss, den ich überqueren musste.
Ich fuhr fünf, zehn, fünfzig, hundert Stockwerke mit einem Fahrstuhl. Der Fahrstuhl hielt nicht an. Er fuhr immer weiter hoch. Ich
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