Glück, ich sehe dich anders
durften die Jugendlichen in Firmen oder Privatpersonen bei Arbeiten helfen, die rund um Haus, Hof, im Geschäft oder in der Familie anfielen. Melanie fragte, ob sie den Tag bei uns verbringen dürfe. Es wäre ihr ein sehr großes Anliegen, an diesem Tag behinderten Menschen zu helfen. Melanie war sehr stolz, dass sie bei uns sein durfte. Sie wickelte Loreen, half mir beim Kochen, spielte mit den Mädchen und las ihnen etwas vor.
Als sie gehen musste, kam sie zu mir und sagte, sie sei sehr froh, dass sie in unsere Familie gekommen sei. Wir sprachen noch eine Weile miteinander, und ich war beeindruckt von ihren Einsichten.
Sie formulierte es vielleicht ein wenig anders, aber sie sagte, sie fände es nicht schön, wenn andere Menschen über Behinderte schimpfen oder über sie lachen würden. Sie hätte auch ihre Schwächen, aber jeder Mensch sei eben anders. Manche könnten gut lesen oder gut rechnen. Dafür könnten sie nicht zuhören, wenn andere Probleme haben, oder sie seien vielleicht schlecht im Sportunterricht. Sie sei auf ihre Art anders, aber sie sei nicht dumm. Sie könne vieles, was andere nicht könnten. Sie singe gern, und sie tanze gern. Sie könne mehr, als in einer Werkstatt für Behinderte Schrauben abzuzählen. Sie wolle gern etwas mit Tieren machen, zum Beispiel Tierpflegerin werden.
Melanies Worte berührten mich, sie brachte etwas auf den Punkt, was auch ich empfand. Ich hoffe, dass sie ihren Weg gehen kann.
Hätte ich Louise und Loreen nicht auf die Welt gebracht, hätte ich nicht diese wunderschönen Erlebnisse gehabt. Meine Kinder haben mir die Augen geöffnet, durch sie ist mir klar geworden, dass ich richtig hinsehen muss, um die schönen Dinge im Leben zu erkennen.
LEBEN, JEDEN TAG
S eit der letzten Chemo waren zwei Monate vergangen. Louise befand sich inzwischen in der Dauertherapie wieder mit Chemotabletten und Spritzen. Es ging ihr erstaunlich gut. Die geplante Bestrahlung am Kopf wurde kurzfristig abgesagt. Für den Fall, dass es doch noch zu einer Knochenmarktransplantation kommen würde, sollte Louise vorweg mehrere Ganzkörperbestrahlungen erhalten. Die Ärzte suchten noch immer fieberhaft nach Kindern und deren Angehörigen, die eine Knochenmarktransplantation bei Down-Syndrom erlebt hatten. Bisher waren nur fünf Fälle bekannt, drei der Kinder waren inzwischen verstorben. Wir recherchierten im Internet nach weiteren Informationen und wurden fündig. In Österreich hatte es einen weiteren Jungen mit Down-Syndrom gegeben, der Knochenmark transplantiert bekommen hatte. Leider war auch er nicht mehr am Leben, hatte aber die hoch dosierte Chemotherapie vor der Knochenmarktransplantation sehr gut vertragen. Und gerade das wurde uns als großes Problem dargestellt. Etwas Hoffnung flammte in uns auf. Mit einer niedrigeren Dosis Chemo und einer niedrigeren Dosis Ganzkörperbestrahlung konnte man die tödlichen Nebenwirkungen vielleicht vermeiden.
Louise durfte zusammen mit Loreen vier Tage in der Woche den Kindergarten besuchen. Da die Chemo leider den eigenen Windpockenschutz vernichtet hatte, war die Ansteckungsgefahr für Louise groß. Wenn sie sich bei einem Kind anstecken würde, müsste sie sofort behandelt werden. Aber wir behielten die Sorgen für uns, denn wir wollten Louise jeden Tag Freude in ihrem Leben schenken. Und der Kindergarten war nach wie vor für Louise eine Unternehmung, auf die sie sich freute. Der Zivi brachte beide Kinder morgens hin und holte sie nach dem Mittagessen wieder ab. Da ich meinen Arbeitsvertrag im gegenseitigen Einvernehmen mit meinem Arbeitgeber aufgelöst hatte und Rolf noch nicht wieder ganztags arbeitete, nutzten wir die Vormittagsstunden hin und wieder für einen kleinen Ausflug zu zweit.
Ausgestattet mit zwei Handys für den Notfall – immer erreichbar für den Kindergarten -, fuhren wir im Umkreis von hundert Kilometern durch unser schönes Schleswig-Holstein. Die kleinen Inseln und Halbinseln, umgeben von der Nordsee im rauen Frühlingswind bei strahlend blauem Himmel und frischer Luft, sind uns mehr wert als ein Urlaub in der Südsee. Die Ostseeförden und kleinen Dörfer mit Reetdachkaten von 1800 waren ein Augenschmaus, von dem wir tagelang zehrten. Die kleinen Fischkutter und Windmühlen, die Lämmer auf den Deichen, die Seehunde, die Wellen oder das platte Watt, die Leuchttürme in strahlenden Farben und das Kreischen der Möwen entschädigten uns für die vielen Tage und Wochen im Krankenhaus.
Mit den Kindern gemeinsam machten wir
Weitere Kostenlose Bücher