Glück, ich sehe dich anders
Down-Syndrom zu haben. Ich sah ihr eine halbe Stunde lang zu, wie sie genüsslich ihr erstes und ihr zweites Stück Sahnetorte verspeiste. Es war ein absolut schönes Erlebnis, ihr zuzusehen. Sie hatte wunderschöne schlanke Finger und einen selbstbewussten Gesichtsausdruck. Sie lächelte mir zu. Ein anderer hätte mir zu diesem Zeitpunkt vielleicht entgegengeschleudert: »Was gaffen Sie so?« Sie aber hatte Gefallen daran, dass ich sie beobachtete. Sie lieferte mir eine Show, und ich fühlte mich von ihrer Art angezogen.
Ein anderes Erlebnis hatte ich bei einem Bäcker. Neben mir stand ein junger behinderter Mann. Ich erkannte ihn gleich wieder. Er hatte einmal recht penetrant an unserer Haustür geklingelt und uns darauf aufmerksam gemacht, dass unser Besuch später nicht nach Hause fahren könnte, wenn das Licht am Auto nicht ausgemacht würde. Er bestellte seine Brötchen. »Wir sind vier Leute, also bitte zwei gleiche Brötchen für vier!« Die Verkäuferin verstand nicht recht und packte zwei Brötchen in eine kleine Tüte. Er wurde sogleich wütend: »Mann, du kapierst das wohl nicht!« Er schüttelte den Kopf. »Ich brauche bitte zwei Mohnbrötchen für jeden mal vier Leute! Und alles Mohn. Sonst streiten wir uns!«
Die Verkäuferin packte acht Mohnbrötchen in eine Tüte.
Der junge Mann fasste dann in seine Hosentaschen, danach in seine Jackentasche und grinste. »Ich habe gar kein Geld mit!« Die Leute, die ungeduldig warteten, dass sie endlich an die Reihe kamen, verdrehten die Augen. Ich hatte meinen Spaß, und er zwinkerte mir zu. Jetzt erst zog er seinen Geldbeutel aus der anderen Jackentasche und sagte zu der Verkäuferin: »Ich wollte dich nur mal foppen!«
Ein sportlicher, selbstbewusster junger Mann, den man täglich auf seinem Fahrrad sieht, immer winkend und grüßend. Wir trafen ihn auch einmal auf einer Veranstaltung der Werkstatt für Behinderte. Bei der Tombola schenkte er uns einen Zettelblock und einen Kugelschreiber. Später kam er in die Cafeteria und lief geradewegs auf unseren Tisch zu. »So, für die Zettel und den Stift kannst du mir jetzt einen Kuchen und einen Kaffee ausgeben!« Er sagte ohne Umschweife, was er wollte. Er faszinierte mich. Und später stand er draußen und qualmte mit seinen Arbeitskollegen eine Zigarette nach der anderen. Sie unterhielten sich stark gestikulierend über ein wahrscheinlich sehr wichtiges Thema. Als ich an ihnen vorbeiging, pfiffen sie mir hinterher, und der eine zeigte auf seine Brust und deutete zwei große Kugeln an. Ich schmunzelte über die Geste und nahm sie als Kompliment.
Als ich mit Louise einmal in der Ambulanz im Krankenhaus wartete, kam ein Junge mit Down-Syndrom herein, ein Spanier mit einem gewissen Temperament, das Down-Syndrom ebenfalls mit einem gewissen Temperament. Er begrüßte alle lautstark, klopfte hier und da jemandem auf die Schulter und wollte sich eine Cola aus dem Automaten ziehen. Die Hüften schwingend, ging er auf den Automaten zu und legte ein paar heißrhythmische Tänze aufs Parkett. Dann drehte er sich ein paarmal um die eigene Achse, warf schwungvoll sein Geld in den Automatenschlitz und nahm ebenso beflügelt die Flasche aus der Luke. Dann holte er mehrere Becher, schenkte seine Cola ein und verteilte diese an die Patienten im Wartezimmer. Als er Louise entdeckte, machte er Luftsprünge, zeigte auf seine Augen, dann auf Louises Augen, zeigte auf seine wenigen Haare, dann auf Louises wenige Haare. Er freute sich wohl, jemanden zu sehen, der ihm ähnlich war. Louise aber rief ihm bloß frech entgegen: »Hast du Probleme?«
Louise und Loreen bekamen oft Besuch von zwei Mädchen, die in unserem Ort wohnten. Femke war zehn Jahre alt und an einem zum Glück nicht bösartigen Gehirntumor erkrankt. Sie spielte gern mit unseren beiden Mädchen, war stets sehr einfühlsam und sprach mit mir fast wie eine Erwachsene über die Behinderungen unserer Kinder und Louises Erkrankung. Sie äußerte mehrmals, dass sie Louise und Loreen sehr gern mag. Sie sagte: »Behinderte Kinder sind so dankbar, und sie machen den Menschen Freude!«
Ich wünschte mir, so würden mehr Menschen über Behinderte denken.
Melanie, das zweite Mädchen, war schon fünfzehn. Sie besuchte eine Schule für geistig behinderte Kinder. Auch sie war von unseren Mädchen sehr angetan. Eines Tages lief in der Schule eine Aktion eines Radiosenders mit dem Motto Schüler helfen leben. Für einen Tag fiel der Schulunterricht aus. Statt in die Schule zu gehen,
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