Glück, ich sehe dich anders
heißt du, kleines Lämmerchen?«
Christian machte eine Nuckelflasche mit Milch fertig, und Louise durfte ein kleines Schäfchen füttern, weil das Muttertier nicht genug Milch gab. Wie eine kleine Bäuerin stapfte sie in ihrem blauen Anzug und ihren Gummistiefeln durch den Stall. Die Mohrrübe, die sie eigentlich einem Schaf geben wollte, knabberte sie vor Aufregung selbst an. »Oh Mann, schmeckt gut, deine Rollrübü«, sagte sie zu Christian.
Natürlich hatte ich Angst, dass sie sich bei den Schafen und Lämmern oder durch die Kötel im Stroh mit irgendetwas anstecken könnte, aber Louise war so begeistert, und ihre sonst mandelförmigen Augen wurden kugelrund und strahlten glücklich. Und dann gab es noch eine gemütliche Tee- und Kakaopause mit selbst gemachtem Eis im Haus von Kerstin und Christian, das von einem traumhaften Garten umgeben ist, in dem zu dieser Zeit Osterglocken, Narzissen und Krokusse blühten.
Rolf und ich genossen möglichst jeden Tag mit den Kindern, denn wir wussten nicht, was morgen sein würde. Wir befanden uns in einem Ausnahmezustand, unser Leben konnte sich von einem auf den anderen Tag verändern.
Bereits wenige Tage nach dem Ausflug an die Nordsee hatte ich mal wieder ein Gefühl im Magen, als hätte ich Felsbrocken verspeist. Ich saß in der Kinderkrebsambulanz und wartete seit fast drei Stunden auf ein spezielles Blutbild. Alle paar Minuten klingelte das Telefon hinter der Glasscheibe, wo die Arzthelferin saß, und ich schreckte jedes Mal zusammen, weil ich meinte, das sei jetzt die Nachricht aus dem Labor über Louises Blutbefund. Die Laborassistentin, die Louise Blut abgenommen hatte, ging in ein anderes Zimmer, und ich hörte, wie sie zu jemandem sagt: »Die Professorin sieht es sich auch gerade an!«
Die Werte konnten nur schlecht sein, wenn die Professorin sie sich ansah. Bedrückt wartete ich auf das Ergebnis. Man teilte mir schließlich mit, dass ein paar Werte auffällig und ein paar große Zellen zu sehen seien. Doch dann gab es doch erst mal wieder Entwarnung. Sie hatten die großen Zellen mit Louises alten Leukämiezellen verglichen, und die hatten anders ausgesehen, waren auch größer. Vielleicht ein Virus?
Eine Woche lang mussten wir wieder warten. Ich war erschöpft, seelisch erschöpft von nur drei Stunden Aufregung. Louise munterte mich auf. Sie allein schaffte es immer wieder. Im Auto sang sie Weihnachtslieder – mitten im vierundzwanzig Grad warmen Frühling. Zu Hause angekommen, erzählte sie, wie langweilig es beim Arzt war. Sie raufte sich mit Loreen, und beide sangen, tanzten, hüpften und spielten Hasenohren-Finger.
Ich schlief nachts kaum. Was würde nächste Woche sein?
WIE EIN LANGER ABSCHIED
M anchmal kommt es mir jetzt vor wie ein langer Abschied, den wir mit unserem Kind intensiv erleben durften. Ich achtete auf jede Kleinigkeit, horchte auf jedes Wort, das Louise sagte, sah in jeder kleinen Besserung einen überwältigenden Fortschritt. Louise schenkte mir viel in dieser Zeit, ich bin noch immer gerührt, wenn ich an ihre Komplimente denke, die sie mir ständig machte. Sie sagte: »Du siet hübs aus, hübse Hose, hübser Pullover, deine Haare riechen gut, habe lieb, Mama!«
Einmal sagte sie zu mir: »Hab Angst vorm Tod!« Lauschte sie heimlich, wenn Rolf und ich miteinander über die Zukunft sprachen? Ein anderes Mal sagte sie: »Fahr vorsichtig, Mama. Aufpassen bei Auto!« Und dann fügte sie hinzu: »Schlaf gut, und träum ssön!« Als würden wir uns nicht wiedersehen …
Sie genoss wie immer jeden Sonnenstrahl. Dann rief sie: »Ssöne Sonne wieder da!« Und wenn ich das Fenster zum Lüften öffnete, streckte sie ihre Nase zum Fenster hinaus und bemerkte: »Das riecht aba fische Luft, aba herrlich!«
Ich wünschte mir, es möge kein Abschied sein. Ich wünschte mir, dass es nur ein Hinweis sei, dass mir jemand etwas mit auf den Weg geben wollte, damit ich erkenne, wie einzigartig Louise ist. Ich muss sie nur genau beobachten, um ihre liebevollen Gesten zu verstehen.
Manchmal kam Louise mir so vor, als würde sie bald in Rente gehen, als hätte sie ihre Lebensabschnitte alle erfüllt, ihre Kindheit verlassen, ganz schnell ihre Teenie-Phase durchlebt. Sie war so reif und erwachsen geworden durch ihre Krankheit. Sie stand manchmal vor mir wie eine kleine gebrechliche alte Frau, die Haut faltig von ihren Medikamenten, die Hände runzlig und verbraucht wie nach einem langen Leben voll harter Arbeit. Die wenigen Jahre, die sie jetzt gelebt
Weitere Kostenlose Bücher