Glück, ich sehe dich anders
hatte und die wir intensiv mit ihr verbringen konnten, kamen mir vor wie Jahrzehnte. Louise erschien mir älter, als sie eigentlich war.
Wieder einmal musste Louise ins Krankenhaus. Sie hatte nachts so schwere Pseudokrupp-Anfalle, dass sie mit dem Rettungswagen in die Klinik gebracht werden sollte. Wir erledigten solche Zwischenfälle mittlerweile routiniert wie einen Einkauf im Supermarkt. Und auch Louise ließ sich nichts Besonderes anmerken. Röchelnd und nach Luft ringend, rannte sie noch schnell ins Zimmer ihrer Schwester, weil diese schrie. Loreen störte der Krankenwagen mit dem Blaulicht vor der Tür. Sie wollte die Sanitäter und Ärzte nicht im Haus haben. Louise rief halb erstickend: »Is nich slimm, Loheen. Is nur Krankewagen. Morgen komme ich wieda. Habe Kupphusse!«
ERNEUTER RÜCKFALL
Z u meinem dreiunddreißigsten Geburtstag lag Louise erneut in der Kinderkrebsklinik. Rolf war morgens bei ihr. Wir tauschten nachmittags die »Schicht«. Ich suchte mir einen Parkplatz auf dem überfüllten Klinikgelände. Ich stellte den Wagen vor dem Kinderspielplatz ab. Es waren wenige Gehminuten bis zum Eingang. Noch wenige Minuten in Freiheit!, dachte ich. Dann steigt mir wieder der Geruch von Erbrochenem in meine Nase!
Es war ein herrlicher Maitag. Als ich den Eingang der Klinik fast erreicht hatte, erblickte ich Louise. Sie saß mit Rolf auf der Gartenbank vor dem Eingang. Ihre blasse Hand hielt einen winzig kleinen Blumenstrauß. In der anderen Hand hatte sie ein zusammengerolltes Bild. »Für dich, liebe Mama! Herzlichen Glückwunsch!«, sagte sie.
Ich konnte mich nur schwer zusammenreißen.
Louise musste mal wieder wegen eines Entzündungswertes stationär behandelt werden. Sie hatte abfallende Blutwerte, obwohl sie keine Chemotherapie bekommen hatte. Die Untersuchungen dauerten an. Mir brauchte keiner etwas vorzumachen. Ich ahnte, dass mein Kind wieder einen Ausbruch hatte. Warum? Warum immer wieder diese Schreckensmeldungen neuer Krebsausbrüche, schlechter Blutwerte, neuer Chemotherapien …
Wenige Tage später standen die Windmühlen still. Meine richtungsweisenden Begleiter hatten einfach ihre Motoren abgestellt. Louise hatte erneut einen Leukämieausbruch. Die bösen Zellen spielten verrückt und besiedelten das Knochenmark mehr denn je. Die erste Chemotherapie schlug überhaupt nicht an. Erst die zweite zeigte Wirkung. Jetzt wurde Louise endlich auf ihre Knochenmarktransplantation vorbereitet.
Ich träumte nur noch einen Traum. Ich träumte, dass ich durch die Großstadt fahre, in der ich mich auch schon zuvor in meinen Träumen immer verirrt hatte. Dieses Mal fuhr ich zügig und zielstrebig eine bestimmte Straße entlang. Ich war fast am Ziel angekommen und verglich den Namen auf dem Ortsschild mit dem Namen auf meinem Plan. Es war derselbe Name.
Als ich aufwachte, wusste ich: Ich bin auf dem richtigen Weg. Jetzt habe ich die Zügel nicht mehr in der Hand. Ich lasse alles geschehen und sehe zu. Ich bin machtlos. Aber auf einmal geht alles einfacher. Ich habe losgelassen. Ich kann nichts mehr tun. Ich kann nur zusehen, was jetzt passiert. Da ist wohl eine Macht, die alles entscheidet, die alles geschehen lässt nach ihrem Sinne.
Danach erinnerte ich wochenlang keinen Traum mehr.
Louise bekam noch zwei Chemotherapien. Die Zeit auf der Station war wie immer zäh und zermürbend. Morgens um 9 Uhr saßen Louise und ich fertig geduscht, angezogen und satt vom Frühstück auf dem Bett. Wir überlegten uns, wie wir den Tag verbringen konnten. Mit dem Infusionsständer war man nicht sehr beweglich. Das Kabel für die Stromversorgung war auch nicht lang genug, um weite Strecken zurückzulegen.
Der Akku funktionierte nur begrenzte Zeit, und der Schlauch, durch den die Medikamente liefen, war zu kurz für die meisten Strecken.
Louise wollte vom Krankenzimmer ins Spielzimmer. Also Stecker des Stromkabels aus der Steckdose und los. Louise lief wie ein Hündchen an der Leine vor mir her. Ich schob den Infusionsständer hinterher und hielt den Schlauch locker, damit er nicht – wie schon so viele Male – samt Nadel aus dem Portzugang rutschte. Louise parierte, wenn ich Anweisungen gab. »Achtung, loslaufen, Achtung, nicht so schnell, Achtung, stehen bleiben, Achtung, weiterlaufen und stopp!« Die großen Kinder konnten ihren Ständer schon allein schieben. Louise versuchte es auch, sie machte es den anderen nach, aber dann musste ich ihr doch helfen. Angekommen im Spielzimmer, steckte ich den Stecker dort
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