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Glück, ich sehe dich anders

Glück, ich sehe dich anders

Titel: Glück, ich sehe dich anders Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melanie Ahrens
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ansehen, ihren Namen noch einmal hören, sich vergewissern, dass Mama und Papa bei ihr waren. Ihre Pupillen fingen an zu zittern, und sie schloss die Augen. Ich werde ihren letzten Blick nie vergessen. Sie lag da mit einem Haarflaum, wie damals als Baby.
    Nach beinahe einer Stunde reanimierte der Notarzt das Herz, aber sämtliche Gehirnfunktionen waren bereits erloschen. Louise lag auf dem Boden in ihrem Zimmer. Ich hielt ihre Hand. Rolf stand neben uns. An Maschinen angeschlossen, wurde sie in die ortsnahe Kinderklinik gebracht. Oma Karin und Opa Rolf waren bei Loreen. Rolf hatte sie benachrichtigt.
    Ausgerechnet der Arzt, der nach Louises Geburt so lieblos gefragt hatte: »Kennen Sie Mongo-Kinder?«, war in dieser Nacht im Dienst. Und wieder machte er geschmacklose, unsensible Bemerkungen. Er war der Auffassung, eine Gehirnstrommessung täte eigentlich nicht mehr Not, da es sowieso zu spät sei. Er machte uns Vorwürfe, weil wir die Blutgruppe unserer Tochter nicht auswendig wussten.
    Ich verlangte nach einem Blutbild. Ich wollte mich vergewissern, dass Louises Blutwerte noch im Rahmen waren, sie noch eine Chance hatte.
    Der Arzt fragte uns, ob er noch irgendetwas für uns tun könne. »Vielleicht einen Kaffee?«
    Louises Blutwerte waren sehr schlecht, aber die Leukozyten waren auch schon einmal niedriger gewesen, und Louise war dennoch nicht gestorben; also schien für uns alles noch lange nicht am Ende. Ich verlangte, dass man ihr die für den Tag vorgesehenen Blutkonserven verabreiche. Meine Tochter sollte alles bekommen, was ihr Körper noch benötigte. Louise blutete aus Mund und Nase. Der Beatmungsschlauch hing blutüberströmt vor ihrem Gesicht. Louises Hemdchen hatten sie zerschnitten und einfach in den Mülleimer geworfen. Ich habe es wieder herausgeholt. Es roch nach ihr. Ihre Blutkonserven bekam sie. Die Gehirnstrommessung wurde durchgeführt – wenn auch mit vier Stunden Verzögerung. Der Beatmungskasten machte plötzlich Hüpfer. Der neue Arzt, der hinzugekommen war, sagte, dass Louise zwischen den Beatmungsstößen des Gerätes doch ab und zu noch einmal selbst Luft hole. Es hörte sich an, als würde sie seufzen, erleichternde tiefe Luftstöße von sich geben. Vielleicht war es die Luft, die ich ihr noch aus meiner Lunge zu Hause eingeflößt hatte. Und sie nutzte das, um tief durchzuatmen, ein letztes Mal …
    Bevor die Ärzte die Geräte abschalteten, wurde ein Ethik-Komitee einberufen. Diese Personen standen am Bett unserer Louise. Jemand rief laut aus: »Wir müssen feststellen, dass bei diesem Kind der Tod eingetreten ist!« Kein liebes Wort war zu vernehmen, nicht einmal der Name unserer Tochter wurde von diesem Ethik-Komitee genannt. Sterben in Würde war das nicht. Mein Mann und ich mussten den Raum verlassen. Ich presste mein Ohr an die Tür, um Louises letzten Atemzug zu hören. Danach war mir klar: Für mich ist Louise zu Hause in meinen Armen gestorben. Im Krankenhaus hörten die letzten physiologischen Vorgänge auf, die Maschinen zum Teil noch unterstützt hatten.
    Louise wurde bei Vollmond und stürmischem Wetter geboren. Sie starb bei Vollmond und stürmischem Wetter. Dunkle Wolken zogen am Himmel auf. Es regnete, als würde sich der Himmel befreien. Es kam mir vor, als würden die Engel weinen, weil ein sehr kostbarer Mensch die Erde verließ. Dann donnerte und blitzte es. Wir erfuhren später, dass bei uns in der Nähe Blitze eingeschlagen hatten, ein Telefonmast war lahm gelegt und sämtliche Stromleitungen waren beschädigt worden. Während des Gewitters stellte ich mir vor, die Engel veranstalteten ein Feuerwerk, weil ein besonderer Mensch den Himmel erreicht hatte. Meine Eltern kamen, meine Schwester mit ihrem Freund. Ich sah den demütigen Blick meines Vaters.
    Sie ist so gestorben, wie ich es mir gewünscht hatte. Wenn es geschehen sollte, dann zu Hause bei uns, wenn alle da waren. Ohne Leiden und ohne Qualen. Alles, was im Krankenhaus noch unternommen wurde, waren Behandlungen an Louises Körper. Louise war morgens um halb vier in ihrem Zimmer von uns gegangen. Das hat eine ganz große Bedeutung für mich.
    Rolf rief den Bestatter Herrn Ramcke an, der für die Todesfälle in unserem Gemeindebereich zuständig ist. Wir ließen Louise nicht aus den Augen. Nur für die nötigsten Untersuchungen wichen wir kurz von ihrem Bett. Ich wusch sie, wickelte sie noch ein letztes Mal. Wir waren mit ihr allein. Ich erzählte ihr zum letzten Mal, was sie den ganzen Tag über gemacht hatte.

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