Gluecklich, wer vergisst
Zuerst bietet er Joe an, ihr die Räuberleiter zu machen. Sie lässt sich nicht lange bitten. Steigt mit dem rechten Fuß auf seine Hände, hält sich an seinen Schultern fest und schwingt sich mit dem linken Bein auf das eiserne Tor. Im Grätschsitz hängt sie oben. Blickt ängstlich hinunter auf den betonierten Eingangsbereich.
„Spring endlich“, ruft Franzi, die sich gerade von Willi hochhieven lässt.
Joe schließt die Augen. Bis zum Boden sind es knapp drei Meter. Erst als Franzi ihre Beine über das Gitter schwingt, lässt sie sich hinuntergleiten.
Der Mond spiegelt sich silbern im ruhigen Wasser. Beleuchtet fast genau den Sprungturm.
Rasch entledigen sie sich ihrer Kleider und klettern hinauf zum Fünf-Meter-Brett.
„Ihr springt von hier und wir dann hinterher vom Zehner“, sagt Gustav zu den Mädchen.
Als Joe zum Brett vorgeht und auf das schwarzblaue Wasser unter sich starrt, wird ihr schwindlig. „Du zuerst“, sagt sie mit brechender Stimme zu Franzi.
„Angsthase“, sagt Franzi, nimmt Anlauf und macht eine mehr oder weniger gelungene Kerze.
„Du musst nicht springen, wenn du dich fürchtest“, flüstert Gustav in Joes Ohr.
Sie zittert am ganzen Körper, will sich aber vor den Burschen und vor allem vor Franzi keine Blöße geben. Sie geht vor zum Ende des Brettes. Hält sich mit zwei Fingern die Nase zu und springt. Die Beine halb angezogen, die Arme eng am Körper. Es ist eher ein Schustersitz als eine Kerze.
Als sie aus dem Wasser kommt, umarmt Gustav sie und drückte ihr einen Kuss auf den Mund.
Sie gibt ihm eine Ohrfeige. Eine reine Reflexbewegung. „Entschuldige“, stammelt sie.
Beleidigt wendet sich Gustav ab. Klettert hinauf zum Zehner und repariert sein angeschlagenes Selbstbewusstsein mit einem perfekten Sprung.
Willi versucht, sich zu drücken. Doch das lässt Franzi nicht zu. Sie gratuliert jetzt Gustav zu seinem tollen Sprung mit einem Kuss.
Als Willi daraufhin mit Todesverachtung zum Zehner hinaufsteigt, bekommt Joe es mit der Angst zu tun. Sie bezweifelt, ob Willi überhaupt schon jemals höher als bis zum Fünf-Meter-Brett geklettert ist.
Franzi feuert ihn mit Zurufen an. Gustav gibt seinem Freund ebenfalls gute Ratschläge. Hilflos sieht Joe zu, wie der eher schwächliche Junge einen ebenso misslungenen Sprung vom Zehner macht wie sie vorhin vom Fünf-Meter-Brett.
Gustav gleitet sofort ins Wasser und kommt seinem Freund zu Hilfe. Er schleppt ihn mehr oder weniger an Land. Wiederbelebungsversuche sind zwar nicht nötig, Franzi stürzt sich aber dennoch auf den schwer schnaufenden Willi, der jede Menge Prellungen abbekommen hat, und versucht es mit Mund-zu-Mund-Beatmung.
Kleinlaut verlassen sie dann das Strandbad auf demselben Weg, wie sie es betreten haben. Dieses Mal muss Gustav allen dreien über das Tor helfen.
7. Kapitel
Am nächsten Morgen borgte mir Mario seinen silbermetalliséfarbenen BMW 320, der mich an Verenas Wagen erinnerte, der damals auf der Brücke über dem Wiental total ausgebrannt war. Ich fuhr sehr vorsichtig nach Linz. Seit einem Jahr saß ich zum ersten Mal wieder am Steuer eines Autos. Auf der Westautobahn war zum Glück nicht viel Verkehr. Anfangs schlich ich auf der rechten Spur hinter LKWs her. Nach etwa zwanzig Kilometern begann ich das Gefühl, über hundert PS unter meinem Hintern zu haben, zu genießen, stieg aufs Gaspedal und verließ die zweite Spur kaum mehr. Zum ersten Mal seit Verenas Tod dachte ich daran, mir wieder einen schnellen Wagen zuzulegen.
Als ich bei einem Fußgängerübergang in der Nähe des Linzer Bahnhofs anhielt, deutete ein älterer Herr lachend auf den mit den Hüften wackelnden Elvis am Armaturenbrett. Auch ich fand den King komisch und überlegte mir ernsthaft, Jan so ein geschmackloses Püppchen zu kaufen. Eine Hüften schwingende Marilyn Monroe zum Beispiel? Er würde mich umbringen, dachte ich vergnügt.
Meine gute Laune hielt jedoch nicht lange an. Kaum näherte ich mich der Justizanstalt, krampfte sich mein Magen zusammen. Das moderne, rosa gestrichene Haus machte von außen einen durchaus freundlichen Eindruck. Die Sicherheitskontrollen kamen mir hingegen sehr streng vor. Ausweiskontrolle, elektronische Sicherheitsschleuse, kurze Leibesvisitation. Auch meine Handtasche musste ich abgeben. Mein angefangenes Zigarettenpäckchen und ein Feuerzeug durfte ich nach längerer Diskussion behalten.
Der Besucherraum war ein Zimmer ohne Charakter, sauber und steril wie in einem Krankenhaus. Ich hatte mir
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