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Gluecklich, wer vergisst

Gluecklich, wer vergisst

Titel: Gluecklich, wer vergisst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Kneifl
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Brieffreundin schrieb mir aus Nairobi, der Hauptstadt von Kenia. Wir teilten einander nicht nur all unseren Seelenschmerz mit, sondern fanden es auch nicht unter unserer Würde, uns über Alltägliches auszutauschen. So erfuhren mein neugieriger Vater und ich damals einiges über das Wetter in Finnland, über die beliebteste Disco-Musik in Nairobi und welche amerikanischen TV-Serien philippinische Kinder aus gutem Haus liebten.
    Zu meinem zwölften Geburtstag hatte mir Gisela ein verschließbares Tagebuch geschenkt. Da ich wusste, wie neugierig mein Vater war, suchte ich immer wieder neue originelle Verstecke für den Schlüssel. Eines Tages in jenem verhängnisvollen letzten Sommer am See verlor ich den Schlüssel. Prompt las Victor, was nicht für ihn bestimmt war. Und ich belauschte vom Luftschacht in Franzis Zimmer aus eine heftige Diskussion zwischen meinen Eltern im Salon. Bei ihren Worten schoss mir die Schamesröte ins Gesicht. Ich hasste sie alle beide. Warum hielten Eltern ihre Kinder bloß immer für blöd?
    Aus heutiger Sicht war ich Gisela dankbar für ihr Verständnis.
    Nach der Lektüre meiner Tagebuchaufzeichnungen hatte Victor meiner Mutter seine Besorgnis wegen meiner Verliebtheit in Albert mitgeteilt. Ich erinnerte mich immer noch fast genau an den Wortlaut ihrer Auseinandersetzung.
    „Du hast wohl noch nie davon gehört, dass man die Privatsphäre der eigenen Kinder zu respektieren hat? Um zu wissen, dass sie in Albert verliebt ist, muss ich nicht ihr Tagebuch lesen. Du bist unverbesserlich, Victor“, schimpfte Gisela mit meinem Vater.
    „Der Junge ist mir nicht geheuer. Der spinnt hochgradig. Begrüßt du es etwa, dass sich unsere Tochter mit so einem Verrückten einlässt? Ihre ersten sexuellen Erfahrungen mit einem Spinner macht? Aber du bist ihm ja sehr wohlgesonnen, wie ich bemerkt habe.“
    „Sei nicht lächerlich“, warf Gisela ein.
    „Ich werde ihm sehr deutlich zu verstehen geben, dass er gefälligst seine dreckigen Finger von meinem kleinen Mädchen lassen soll, sonst …“
    „Hör auf, Victor. Du bist der Spinner. Merkst du denn nicht, dass der arme Junge total in  mich  verknallt ist? Joe behandelt er wie ein Kind. Und ich werde weiterhin dafür sorgen, dass das so bleibt. Misch dich ja nicht ein!“
    Am liebsten wäre ich damals hinunter in den Salon gestürzt und hätte beide beschimpft.
    „Außerdem sage ich nur: Gustav“, fuhr meine Mutter fort.
    „Wie? Was ist mit Gustav?“, fragte mein Vater.
    „Mein Gott, Victor, du stehst wirklich auf der Leitung. Vor lauter Angst, dass der böse Albert deinem kleinen Mädchen etwas antun könnte, hast du gar nicht bemerkt, dass sich bereits ein anderer junger Mann recht energisch um sie bemüht.“
    „Dieser Sohn eines Bullen? Niemals!“, schrie Victor.
    „Wehe dir, wenn du auch ihm gegenüber den Othello mimst“, sagte Gisela lachend. „Er ist ein sehr netter und gutmütiger Junge. Und er ist total in sie verknallt. Für Joe ist es wichtig, dass sie sich irgendwann einem anderen Mann zuwendet. Du kannst nicht immer und ewig ihr einziger Held sein. Begreifst du das denn nicht?“
    Meine Mutter war die Einzige, die es schaffte, meinen redegewandten Vater mundtot zu machen. Nach diesem Streitgespräch benahm sich Victor auffallend wohlwollend gegenüber Gustav, dem er vorher nicht die geringste Beachtung geschenkt hatte. Er stellte ihm onkelhafte Fragen über seine Zukunftspläne, lobte ihn für seine sportlichen Leistungen, erkundigte sich nach seinen schulischen Erfolgen und verbündete sich eines Abends sogar mit ihm, als Philip über Muhammad Ali und seinen religiösen Fimmel herzuziehen begann. Muhammad Ali war damals Gustavs großes Idol.

    Gespenster der Vergangenheit? Ich musste schmunzeln. Ich fürchtete mich schon lange nicht mehr vor Gespenstern. Aber vielleicht sollte ich den Mann fürchten, in den ich damals verliebt gewesen war?
    Es hatte zu regnen begonnen. Das monotone Geräusch der Tropfen, die an mein Fenster klatschten, beruhigte mich.
    Die Erinnerung an meine kluge Mutter machte mich glücklich, nicht traurig. Sie ist noch immer bei mir, in mir und wird auch immer bei mir bleiben. Die Erinnerung an sie macht mich stark. Allein der Gedanke an sie hilft mir, dachte ich, bevor ich endlich einschlief.
    Sommer 1979
    Kurz nach Sonnenuntergang rudert Joe allein auf den See hinaus. Das Boot gleitet schnell über die nahezu unbewegte Wasseroberfläche. Sie blickt hinüber zum dunklen Südostufer, wo sich die

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