Gluecklich, wer vergisst
plötzlich. Ich hatte diese Frage gar nicht stellen wollen. Sie war mir einfach herausgerutscht.
Er kniff die Augen zusammen, starrte mich an, als wäre ich ein Insekt unter einem Mikroskop. Seine Lippen öffneten sich ein wenig. Er hatte prachtvolle weiße Zähne. Waren es seine dritten? Fast sah es aus, als lächelte er.
Das Pochen in meinem Kopf schwoll an. Ich drückte meine Hände an die Schläfen.
„Habe ich Philip umgebracht? Ich weiß es nicht mehr. Ich muss mir diesen Gedanken erst durch den Kopf gehen lassen.“
Sein Blick war ernst. Er schien nicht zu scherzen.
„Nein. Tut mir leid. Ich fürchte, ich kann mich nicht mehr erinnern“, sagte er dann leise. „Ich weiß, dass es an dem Abend heftig geregnet hat. Die Äste der Kastanienbäume haben an die Fenster geklatscht, die Fensterläden unheimlich geklappert. Draußen nichts als Schwärze und Nässe. Ein idealer Abend, um zu sterben.“
„Hattest du einen Grund, Philip umzubringen?“
„Einen Grund, Philip umzubringen? Ich weiß es nicht. Es gab viele Gründe.“
„Hast du ihn getötet oder hast du nicht?“, fragte ich gereizt.
„Ich muss darüber nachdenken. Das klingt verrückt, ich weiß. Aber ich bin mir nicht sicher.“
„Du musst doch wissen, ob du ihn umgebracht hast oder nicht.“
„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Schuld an seinem Tod bin ich auf jeden Fall.“
„Albert, bitte …“
„Du hast recht. Wahrscheinlich habe ich ihn getötet. Lass uns morgen darüber reden. Ich muss ins Bad, ich will mich duschen, all diesen Dreck loswerden.“
Er stand auf und verließ grußlos, und ohne mich noch einmal anzusehen, den Raum.
Am liebsten wäre ich ihm hinterhergelaufen. Doch ich wusste aus Erfahrung, dass ich kein Wort mehr aus ihm herausbringen würde. Wenn Albert keine Lust hatte zu reden, dann redete er nicht. Das war schon früher so gewesen. Er würde sich nach der Dusche wieder in sein Zimmer zurückziehen, sich in den alten bequemen Fauteuil seines Vaters setzen, eine Zigarette anzünden, sich einen kleinen Whisky einschenken und den Rest der Nacht vor sich hin grübeln.
Als ich zurück in mein Zimmer ging, fiel mir ein, dass ich weder belegte Brote noch Tee bei Albert gesehen hatte. Anscheinend hat er doch etwas gegessen, dachte ich. Und dieser Gedanke beruhigte mich seltsamerweise.
Bevor ich zu Bett ging, rauchte ich die obligatorische letzte Zigarette auf meiner Terrasse. Ich ging zur Brüstung vor, drehte mich um und betrachtete das alte Gemäuer, das vom Mondlicht in einen gelblichen Glanz getaucht wurde.
Hinter einem Fenster im zweiten Stock des linken, baufälligen Traktes bemerkte ich einen schwachen Lichtschein. Benützte Albert, trotz Warnung der Baubehörde, den linken Trakt mit? War die Tür, die hinüberführte, nicht auch im zweiten Stock mit Brettern zugenagelt? Ich hatte vorhin nicht darauf geachtet. Egal, was ging es mich an? Wenn er sich der Gefahr, die Deckenbalken auf den Kopf zu kriegen, aussetzen wollte, war das seine Sache.
Sicherheitshalber verrammelte ich meine Tür wieder mit einem Stuhl, bevor ich zu Bett ging. Wenn ich nicht endlich aufhörte, in allem ein verdächtiges Indiz zu sehen, würde ich noch genauso paranoid werden wie manche meiner Patienten.
Bevor ich mich in Morpheus’ Arme begab, dachte ich darüber nach, warum ich auf den Verlust des Fotos meiner Mutter so heftig reagiert hatte. Eine Mischung aus Wut und Angst hatte mich dermaßen aufgebracht, dass ich nicht mehr vernünftig hatte denken können. Ich hatte Albert sogar des Mordes bezichtigt. Er hatte sich selber bezichtigt, wenn man es genau nahm. Zwar hatte er die Tat nicht zugegeben, aber auch nicht geleugnet.
Auf Verletzungen meiner Privatsphäre hatte ich immer empfindlich reagiert. Mein neugieriger Vater hatte es, als ich noch zu Hause wohnte, trotz meiner Wutanfälle nicht lassen können, in meiner privaten Post herumzuschnüffeln. Zwar hatte ihm Gisela verboten, Briefe, die an mich gerichtet waren, zu öffnen, doch er hatte es sich nie verkneifen können, Briefe, die offen auf meinem Schreibtisch herumlagen, zu lesen. Da ich im Alter von zwölf Jahren mehrere Brieffreundschaften gleichzeitig pflegte und nicht besonders ordentlich war, hatte er jede Menge Lesestoff.
Unverstanden, wie ich mich in jungen Jahren eben fühlte, korrespondierte ich damals mit Kindern aus aller Welt, die sich ähnlich fühlten. Mein philippinischer Brieffreund lebte in Manila. Ein anderer in Rovaniemi, Finnland. Und meine liebste
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