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Gluecklich, wer vergisst

Gluecklich, wer vergisst

Titel: Gluecklich, wer vergisst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Kneifl
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Neunjähriger seinen erhängten Vater im Verlies des Schlosses gefunden. Garantiert litt er unter einem massiven Trauma.
    Zögernd drückte ich die Klinke runter. Albert hatte sich eingeschlossen.
    Die Musik wurde leiser, klang anders. Mahlers „Tragische“, seine Symphonie Nr. 6 in a-Moll. Ich erkannte sie nach den ersten Takten. Und diese Musik beruhigte mich keineswegs.
    „Albert, mach sofort auf“, rief ich energisch und rüttelte heftiger an der Türklinke.
    Er öffnete und ich fiel ihm buchstäblich in die Arme.
    Albert sah verheerend aus, war bleich im Gesicht, hatte dunkle Ränder unter den geröteten Augen.
    „Ich muss mit dir reden“, sagte ich. „Bitte schalt die Musik aus.“
    „Du bist deiner Mutter wirklich in allem ähnlich. Sie mochte Mahlers Symphonien ebenfalls nicht, stand mehr auf Arnold Schönberg und Alban Berg, fand Gustav Mahler zu romantisch und zu altmodisch. Findest du das auch?“
    Er stimmte das Lied von des Knaben Wunderhorn an.
    „Albert, lass uns miteinander reden“, sagte ich laut und entschlossen, bevor er mir alle fünf Kindertotenlieder vorsingen würde.
    „Ich bin genauso lärmempfindlich wie er. Als es ihm in dem schrecklichen Gasthof in Steinbach zu laut wurde, hat er sich extra dieses Komponierhäuschen hinten auf der Wiese bauen lassen.“
    „Ich bin nicht gekommen, um mit dir über Mahler zu diskutieren.“
    Nach einem kurzen Blick auf den vollen Aschenbecher auf seinem Schreibtisch zündete ich mir eine Zigarette an. Das absolute Rauchverbot im Schloss galt offensichtlich nicht für die Räumlichkeiten des Herrn Baron.
    Die Einrichtung passte sehr gut zu Mahlers Musik. Von den Bildern bis zu den Teppichen war alles in dunklen Farben gehalten. Die wertvollen alten Möbelstücke verstärkten den Eindruck von Schwere und Melancholie. Auf dem großen Nussholzschreibtisch mit kunstvollen Intarsien herrschte Chaos. Schmutzige Kaffeetassen und Essensreste zwischen Büchern, beschriebenen A4-Seiten und jede Menge Schreibwerkzeug und Büroutensilien. Die edlen Mahagoniregale, die fast bis zur Decke reichten, waren vollgestopft mit Büchern.
    Ich nahm ihm gegenüber auf einem zerbrechlich wirkenden Stühlchen mit roter Samtpolsterung Platz. Er saß hinter dem Schreibtisch in einem bequemen Bürosessel.
    Insgeheim musste ich lachen, war dies doch genau das umgekehrte Setting, das ich in meiner psychoanalytischen Praxis hatte: Ich hinter und der Patient vor dem Schreibtisch. Als ich das Foto meiner Mutter auf seinem Tisch entdeckte, verging mir allerdings das Lachen.
    „Du warst in meinem Zimmer und hast das Bild von meiner Mutter gestohlen. Warum? Was hat das zu bedeuten?“
    Schweigen. Hatte er mich nicht verstanden oder lebte er bereits in einer anderen Welt?
    „Gisela war die große Liebe meines Lebens. Ich habe nur sie geliebt. Als ich von ihrem Tod erfuhr, bin auch ich gestorben“, sagte er ganz ruhig und schaute mich erwartungsvoll an.
    „Du konntest doch nicht wissen, dass das Bild auf meinem Nachtkästchen liegt.“
    „Ich habe es dort entdeckt, als ich deinen Ölofen in Gang setzte. Ich habe zuerst nicht gewagt, es anzufassen. Erst später überkam mich der unwiderstehliche Drang, es an mich zu nehmen. Du hast nichts mitgekriegt. Du schläfst genauso ruhig wie Gisela. Ich habe ihr gern beim Schlafen zugesehen.“
    „Wann hast du sie beim Schlafen beobachtet?“
    „Am Badeplatz.“
    „Sie hat tagsüber nie geschlafen.“
    „Ich habe mich abends, wenn dein Vater mit Philip unterwegs war, manchmal in ihr Zimmer geschlichen, so wie jetzt in deines. Sie war so wunderschön, viel zu schön für einen Mann wie deinen Vater.“
    Entsetzt starrte ich ihn an. Sein Ton missfiel mir. Meine Angst kehrte zurück. Beherrsch dich, Joe, sagte ich mir.
    Er begann zu schluchzen.
    „Das alles ist meine Schuld“, sagte er.
    „Wovon sprichst du? Du bist nicht schuld an Heinzis Tod.“
    „Ach, der Heinz. Der wird ewig weiterleben.“
    Ja, in deiner Erinnerung, dachte ich, sagte aber: „Wir fühlen uns alle schuldig. Das ist so ähnlich wie mit der Erbsünde. Katholiken fühlen sich schuldig von Geburt an. Atheisten beginnen etwas später damit, kurz nach der ödipalen Phase, würde ich sagen.“ Mein Scherz entlockte ihm nicht das geringste Lächeln.
    „Ich meine eine viel konkretere Art von Schuld“, sagte er ernsthaft.
    Seine Hände lagen artig gefaltet auf dem Tisch. Schmale Hände mit langen, feingliedrigen Fingern.
    „Warum hast du Philip umgebracht?“, fragte ich

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