Gluecklich, wer vergisst
richtig versponnener Philosoph geworden.“
„Verschrobener“, murmelte ich.
„Hast du seine Bibliothek gesehen?“
„Nein. Aber bei euch liegen ja überall Bücher herum.“
„Lauter wissenschaftliches Zeug, hauptsächlich philosophische und naturwissenschaftliche Werke.“
„Hat er nicht Philosophie studiert?“
„Nein, Altphilologie. Er arbeitet seit Jahren an seiner Dissertation über Ismene, die unbekannte Schwester der Antigone.“
„Die zweite von Ödipus’ Töchtern. Interessant, dass er die unscheinbare Ismene als Thema gewählt hat.“
„Sein Lebenswerk ist inzwischen an die tausend Seiten dick.“
„Das ist wohl eher eine Habilitationsschrift als eine Diss“, scherzte ich. „Interesse für die Antike hatte er ja schon damals. Ich erinnere mich, dass er sich mit meiner Mutter oft stundenlang über die griechische Mythologie unterhalten hat.“
„Daran ist seine humanistische Bildung schuld. Er war ja in diesem kirchlichen Internat in Salzburg. Hin und wieder hat er sogar wissenschaftliche Artikel in Zeitschriften veröffentlicht. Leider bekommt er dafür kein Geld. So manches Mal hat er sogar dafür bezahlen müssen, dass sie seine Arbeit überhaupt abgedruckt haben.“
„Und wovon lebt er?“
„Er ist sehr genügsam.“
Ich fragte nicht weiter nach. Trotz meiner Schmerzen versuchte ich die Wanderung durch den rot, gelb und orange leuchtenden Laubwald zu genießen.
„Nach seinem Nervenzusammenbruch hat er sein Studium leider abgebrochen.“
„Wann hatte Albert einen Nervenzusammenbruch?“, fragte ich lauter, als ich eigentlich wollte.
Walpurga runzelte die Stirn und rechnete nach.
„Das muss kurz nach Marios Geburt gewesen sein. Nein, doch vorher? Ich weiß es nicht mehr genau. Nach seinem stationären Aufenthalt auf der Psychiatrie war er jedenfalls nicht mehr er selbst.“
„Weißt du die genaue Diagnose?“
„Neurotische Depression, glaube ich. Aber das ist alles so lange her. Seither hat er zum Glück keinen Psychiater mehr konsultieren müssen.“
Das wirst du beurteilen können, dachte ich. Je länger ich Albert beobachtete, desto überzeugter war ich, dass er dringend Hilfe brauchte.
„Er nimmt auch keine Medikamente mehr außer Thomapyrin und Valium. Seine Migräneanfälle sind in den letzten Jahren schlimmer geworden. Er kann nachts kaum schlafen. Ich fürchte, dass er von dem Zeug ein wenig abhängig ist. Aber er lässt sich weder von mir noch von Doktor Braunsperger was sagen.“ Das konnte ich mir gut vorstellen.
Den Rest des Weges brachten wir schweigend hinter uns. Als wir den Forstweg erreichten, hängte sich Walpurga bei mir ein.
„Ich werde wohl Heinrich bitten müssen, mir eine Spritze zu geben. Natürlich erst, nachdem er dich versorgt hat“, sagte sie mit schmerzverzerrtem Gesicht.
Die Rückfahrt dauerte ewig. Walpurga fuhr im Schritttempo am See entlang. Endlich kamen wir bei Dr. Braunsperger an. Sein Haus in Schörfling stand außerhalb des Ortes am Fuße des Hongars. Von seiner Terrasse aus hatte man einen prachtvollen Blick auf den See. Doch ich hatte keine Zeit, mich daran zu erfreuen, ich war noch mit Willi verabredet.
Der Doktor schien meine Schrammen nicht allzu wichtig zu nehmen. Er reinigte sie mit einem Desinfektionsmittel, gab Fettgaze auf die schlimmeren Abschürfungen an Knien und Händen und einen Verband drüber und fragte, ob ich gegen Tetanus geimpft wäre. Als ich bejahte, wandte er sich wieder Walpurga zu.
Ich bat ihn um Pflaster für meine Verletzungen im Gesicht. Er riet mir unwirsch, sie offen zu lassen, damit sie schneller trockneten.
Als weder er noch Walpurga Anstalten trafen, mich zurückzuhalten, rief ich ein Taxi und ließ mich zu einem Kaffeehaus im Ort Attersee bringen.
Sommer 1979
Die Regenwolken verziehen sich gegen Mittag. Joe lässt sich von Franzi zu einer Fahrradtour überreden. Sie muss mit Walpurgas Steyrer Waffenrad vorlieb nehmen.
Willi und Gustav warten bereits an einer Weggabelung auf die beiden Mädchen. Gustav gibt sowohl Joe als auch Franzi zur Begrüßung ein Busserl. Willi küsst nur Franzi.
Joe ist offensichtlich sauer auf Gustav. Sie spricht kein Wort mit ihm. Außerdem hat sie Probleme mit dem uralten Rad. Die anderen haben normale Gangräder, warten aber nicht auf sie, lassen sie allein hinterherstrampeln.
Sie fahren durch den Wald Richtung Unterach. Der Waldboden ist vom heftigen Gewitterregen aufgeweicht. Sie müssen durch riesige, teichähnliche Pfützen. Bleiben mehrmals
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