Gluecklich, wer vergisst
Braunsperger ist kein Orthopäde. Vielleicht solltest du mal ein Röntgen machen lassen.“
Würde ich dasselbe zu Gisela sagen, wenn sie noch lebte? Wahrscheinlich rede ich daher wie jede Tochter, die ihre alte Mutter zu bevormunden versucht, dachte ich.
Walpurga waren ihre Knieschmerzen peinlich. Sie forderte mich auf, allein weiterzugehen. „Es ist nicht mehr weit bis zum Hochleckenhaus. Allein schaffst du es in einer Dreiviertelstunde. Ich warte hier auf dich.“
„Kommt überhaupt nicht in Frage! Wir ruhen uns beide ein bisschen aus. Und dann schauen wir, dass wir runterkommen. Ich bin diese verdammte Kraxelei nicht gewöhnt. Mir tut auch alles weh.“ Ich war erleichtert, umkehren zu können.
Den Abstieg gingen wir noch langsamer an als den Aufstieg. Ich nahm Walpurga den Rucksack ab und bot ihr an, sich bei mir festzuhalten. Sie bevorzugte es, knapp hinter mir herzugehen.
„Franzi ist nicht die einzige Verdächtige für die Polizei. Ich weiß, dass sie auch Albert im Visier haben. Vor allem jetzt, nach dem zweiten Mord.“ Das war zwar eine Lüge, aber ich war gespannt auf ihre Reaktion.
Schweigen.
„Albert hätte gute Gründe gehabt, Philip zu beseitigen“, legte ich noch ein Schäuflein nach.
Sie gab mir keine Antwort. Ich hörte nur ihr Schnaufen.
Als wir uns der unwirtlichen Geröllhalde, die wie ein versteinerter Wasserfall hundert Meter hinabstürzte, näherten, malte ich mir unwillkürlich aus, wie mir die Baronin einen Stoß versetzte und ich den steilen, felsigen Hang hinunterfiel, mehrere Purzelbäume schlug, bevor ich mir das Genick brach …
Mein Bergunfall lief in Sekundenschnelle, wie ein Zeichentrickfilm, vor meinen Augen ab. Und dann stolperte ich tatsächlich, verlor den Boden unter den Füßen, flog mindestens eineinhalb Meter durch die Luft, bevor ich mit dem Hintern hart aufprallte und die Geröllhalde hinunterkullerte. Eine kleine Lawine aus Steinen, Ästen und Kiefernzapfen folgte mir. Als ich versuchte, meine Rutschpartie mit den bloßen Händen zu bremsen, schürfte ich mir die Handflächen auf. Ein verdorrtes Gebüsch fing mich schließlich auf.
Ich klammerte mich mit den blutigen Händen an den knorrigen Strauch, stemmte mich mit den Füßen an einem Felsbrocken ab und brachte mich in eine sitzende Position. Dann erst schaute ich nach oben.
Walpurga stand wie angegossen fünfzehn Meter über mir und starrte auf mich herunter. Selbst aus dieser Entfernung wirkte sie noch bedrohlich auf mich. Erst als sie sich zu einem zaghaften Winken bequemte, versuchte ich aufzustehen. Nicht nur meine Hände und Knie taten höllisch weh. Womöglich hatte ich mir auch ein paar Rippen gebrochen oder zumindest geprellt. Ich krümmte mich vor Schmerzen, als ich mich aufrichtete.
Während sich Walpurga vorsichtig näherte, kroch ich auf allen Vieren in ihre Richtung.
Sie schlug vor, die Bergrettung anzurufen. Ich winkte ab.
Gemeinsam begutachteten wir die Abschürfungen an meinen Händen und im Gesicht. Auch meine Ellbogen und meine Knie waren blutig.
Mit Walpurgas Hilfe ließ ich mich auf dem steinigen Boden nieder. Überraschenderweise war das Zigarettenpäckchen in meiner Hosentasche bei dem Sturz heil geblieben. Ich rauchte zwei Zigaretten hintereinander, um mich zu beruhigen. Außerdem bildete ich mir ein, dass das Nikotin meine pochende Lunge besänftigte.
„Und du glaubst wirklich, dass du weitergehen kannst?“, fragte Walpurga. Sie klang nicht sonderlich besorgt.
„Natürlich. Wir zwei Behinderte werden es schon bis hinunter schaffen“, sagte ich mit einem gequälten Lächeln. „Diese Bergtour war keine so glorreiche Idee. Ich habe mich in den Bergen noch nie besonders wohlgefühlt.“
Das letzte steile Stück stützten wir uns gegenseitig. Trotzdem gerieten wir abwechselnd ins Rutschen.
Kaum waren wir auf dem Waldweg angelangt, ließ Walpurga meinen Arm los und fing wieder von Albert zu reden an.
„Seit er erwachsen ist, lebt er sehr zurückgezogen. Das ist dir ohnehin nicht entgangen, nehme ich an. Meistens kommt er nur zu den Mahlzeiten herunter. Mit mir spricht er kaum. Philip und Franzi hat er in den letzten Jahren sowieso mehr oder minder ignoriert. Der einzige, der ihn aus der Reserve locken kann, ist Mario. Albert hat seinen Neffen sehr gern. Manchmal höre ich die beiden sogar miteinander lachen. Ehrlich gesagt, bin ich fast eifersüchtig. Ich finde keinen Zugang mehr zu meinem Sohn. Er verbringt seine Tage mit Lesen, Schreiben und Denken. Er ist ein
Weitere Kostenlose Bücher