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Glückliche Ehe

Glückliche Ehe

Titel: Glückliche Ehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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Einfach nur heulen?Er hatte es oft genug gewollt und manchmal auch getan, in seinem Büro, im Auto und zweimal mitten unter fremden Leuten, auf der Straße in New York. Aber er hatte Söhne. Genau wie Dorothy und Leonard hatte er Kinder, die ihn brauchten. Er war immer davon ausgegangen, dass Margaret das übernehmen würde, dass sie ihn überleben und für die Jungen sorgen würde, wenn sie längst Erwachsene wären. Jetzt war es an ihm. Zu seiner Überraschung war es bisher nicht kompliziert gewesen, seine Söhne zu trösten: eine Sache ehrlicher Informationspolitik, verbunden damit, ihnen das Gefühl zu geben, traurig zu sein und Angst haben zu dürfen. Auch wenn es schmerzhaft war, zu sehen, wie diese Last auf so junge Schultern drückte – ihre Gefühle waren doch rein, unbefleckt vom Narzissmus derer, die Margaret altersmäßig näher waren und sich daher selbst an ihrer Stelle sahen. Max und Gregory waren in einem Schockzustand, erschüttert und voller Angst vor ihrem nahenden Tod. Der Schmerz würde erst noch kommen: Wenn Margaret nicht mehr am Telefon war, nachdem sie ihre Brieftasche verloren hatten, wenn keine E-Mails mit Ratschlägen für das wichtige Vorstellungsgespräch mehr eingingen, wenn niemand sie mehr ermahnte, ein Jackett mitzunehmen, um ihre Großeltern im Golfclub zu besuchen, wenn sie sie nicht mehr anrufen konnten, um sich sagen zu lassen, dass sie gutaussehend und charmant waren, nachdem ein herzloses Mädchen sie abgewiesen hatte, oder um ihr entzücktes Quietschen zu hören, wenn sie einen erfolgreichen Karriereschritt zu vermelden hatten; wenn sie zum Altar schritten, um ihre Liebste zu heiraten, und ihre Mutter nicht in der ersten Reihe sitzen sahen, wenn sie Margarets Enkel in den Armen hielten – dann würden sie Enrique brauchen. Wenn er während Margarets Krankheit zusammengebrochen wäre, hätte er den Jungs Angst gemacht, und wie hätte er sie dann wieder zusammenflicken sollen? Wie hättenDorothy und Leonard das Gefühl haben sollen, dass es da noch jemanden gab, der einigermaßen bei Verstand war und sich liebevoll um ihre Enkel kümmerte? Nach jahrelanger Verwirrung erkannte er jetzt, dass das, was er immer für seine größte Stärke gehalten hatte, das Schreiben, nicht das war, was er den Menschen, die er liebte, zu geben hatte. Dass er die Gefühle anderer akzeptieren konnte, auch wenn sie seinem Wesen noch so fremd waren – das war seine wahre Gabe.
    Er nahm seinen Kaffee mit zum Sofa und ging im Geist noch einmal Margarets letzten Terminplan durch. Morgen würde Greg einen letzten Tag mit seiner Mutter verbringen, und eigentlich sollte auch Max kommen. Greg, der seit seinem Collegeabschluss vor zwei Jahren in Washington arbeitete, würde heute Abend anreisen. Der Plan war, dass er den morgigen Tag allein mit seiner Mutter verbrachte. Max, der während seiner letzten drei Highschooljahre die Krankheit seiner Mutter aus der Nähe miterlebt hatte, musste erst noch sagen, wann er seine letzten Stunden mit ihr haben wollte und ob überhaupt. Er war um die Mittagszeit erschienen, nachdem er die Folgen seines gestrigen Versuchs, das Geschehen auszublenden, mehr oder minder ausgeschlafen hatte. Er hatte einen Blick auf die langen Gesichter seiner Großeltern, Tanten und Onkel geworfen und die Wohnung verlassen, um jemanden zu treffen, wie er sagte. Enrique hatte ihn am Fahrstuhl aufgehalten, um ihn daran zu erinnern, dass er, wenn er noch einmal allein mit seiner Mutter sein wolle, es bald tun müsse, denn morgen würden die Steroide abgesetzt, und dann würde sie wahrscheinlich sehr schläfrig werden oder sogar das Bewusstsein verlieren. »Ich sag’s dir später«, sagte Max.
    »Willst du denn nicht noch mal mit ihr allein sein?«, hatte Enrique insistiert und es bereut, noch ehe Max’ blutunterlaufene Augen zuckten.
    »Ich weiß nicht«, hatte Max gesagt, »hör auf zu fragen.« Und er war schnell im Fahrstuhl verschwunden.
    Enrique musste daraus schließen, dass Max ernsthaft in Erwägung zog, sich nicht von seiner geliebten Mutter zu verabschieden. Das schien absurd. Wo er doch so an ihr hing. In den schlimmsten Phasen ihrer Krankheit war Max unter Tropfschläuche gekrochen, hatte sich an ihren versehrten Körper geschmiegt und den Kopf auf ihre Schulter gelegt. Als sie schwächer geworden war, hatte er ihren Kopf auf seiner immer kräftiger werdenden Schulter plaziert und ihr die Wange gestreichelt. Er sträubte sich jetzt dagegen, von ihr Abschied zu nehmen, weil er

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