Glückliche Ehe
unterbrochen hätte, ehe sein müdes Gehirn wieder alles vergaß. Margaret hatte sich gerade von ihm verabschiedet, indem sie ihn gebeten hatte, die Ohrringe für immer tragen zu dürfen. Es war ihre Art gewesen, ihm zu sagen, dass er ihr ein guter Ehemann gewesen war. Da hätte er, statt zu heulen, sagen müssen, was er ihr sagen wollte. Ist nicht so schlimm, redete er sich gut zu. Ich habe ja noch morgen. Den ganzen Tag.
Max kam die Treppe heruntergestürmt und rief Enrique auf dem Weg zur Wohnungstür zu: »Ich muss weg.«
Enrique stellte ihn, bevor er verschwinden konnte. »Wie war’s?«
»Wie war’s!«, wiederholte Max, als könnte nur ein Irrer eine solche Frage stellen. Er war immer noch wütend, er wollte sie immer noch nicht gehen lassen.
»Entschuldige.« Enrique wurde klar, dass er Max bedrängte.
»War wohl ganz okay«, sagte Max. »Weiß nicht.« Er schluchzte auf. »Was soll ich sagen?« Enrique versuchte ihn zu umarmen. »Okay, okay«, sagte Max und entzog sich seinem Vater, obwohl sein Brustkorb bebte und aus seinen blauen Augen Tränen quollen. »Ich muss los. Ich muss Lisa treffen. Es war gut, es war gut, mit Mom zu reden, aber jetzt muss ich los.«
Enrique ließ ihn gehen. Er hatte kurz Gelegenheit, Margaret zu fragen, wie es für sie gewesen war. Sie erzählte, dass Max wie immer sehr zärtlich gewesen sei, sich an sie gekuschelt und keine Angst vor ihrem kranken Körper gezeigt habe. Doch gesagt habe er nicht viel. »Aber von Lisa hat er mir erzählt«, sagte sie. »Ich war froh, dass er mir von ihr erzählen wollte. Und ich durfte ihn lange in den Armen halten«, flüsterte sie dankbar.
Und dann kam Diane, der letzte Abschiedsbesuch. Enrique verbannte sich für die Dauer dieser letzten Störung ins Wohnzimmer. Er sah die Zeitanzeige am Kabel-Receiver auf 17 Uhr 26 springen und dachte: Noch vier Minuten, dann gehört sie mir.
In dem Moment rief Diane von oben: »Enrique? Kannst du raufkommen? Es geht ihr nicht gut.«
Panisch nahm er immer zwei Stufen auf einmal. Als er ins Schlafzimmer kam, konnte er Margaret nicht sehen. Diane stand übers Bett gebeugt und drehte sich um, als er eintrat. »Ich gehe wohl besser«, sagte sie und verschwand. Margaret lag zusammengekrümmt da, bis über den Kopf unter einerSteppdecke verkrochen, die er jetzt, im Juni, am Fußende des Betts zusammengefaltet hatte. Sie musste Diane gebeten haben, sie damit zuzudecken.
Noch ehe er die Steppdecke herunterzog, um ihr Gesicht sehen zu können, wusste er, was los war. Er erinnerte sich an die anderen plötzlichen Infektions- und Fieberkrisen, er sah, wie die Bettdecke zitterte, und hörte ihre verzweifelte Stimme, als er die Decken wegziehen wollte.
»Nein, nein, nicht«, sagte sie zähneklappernd. »Nicht wegnehmen. Mir ist eiskalt«, flehte sie. Er widersetzte sich, schlug die Decke zurück, um mit seinem langen Körper, an dem sie sich so oft gewärmt hatte, zu ihr ins Bett zu schlüpfen. So schnell er konnte, zog er sich die Decke bis ans Kinn, so dass nur noch ihr Scheitel herausguckte. Er nahm sie in die Arme, presste sich an ihren zitternden Körper und betete, dass der Schüttelfrost aufhörte. Sonst würde er die Hospizärztin anrufen müssen, um zu fragen, welche Medikamente er geben sollte. Aber er hoffte, dass es nicht so weit kam. Margaret hatte alle lebensverlängernden Maßnahmen untersagt. Wenn er Dr. Ko anrief, würde sie ihm sagen, was zu tun wäre, um Margarets Bewusstsein so weit auszuschalten, dass sie nicht mehr mitbekam, was passierte – sie notfalls ins Koma zu versetzen. Die Drogen würden dafür sorgen, dass sie nicht litt, was er natürlich wollte, aber das hieße für ihn: kein Gespräch mehr, keine letzten Worte, um ihr zu danken.
Sie rief: »Die Decke, die Decke!« Enrique zog sie über ihre Köpfe, schloss sie beide in einer heißen Höhle ein. Im Dunkeln sagte sie schnatternd: »Ich fühle mich scheußlich. So scheußlich.«
»Tut mir leid«, flüsterte er und hielt sie ganz fest. »Ich liebe dich.« Und er betete, gottlos wie er war, dass das nicht die letzten Worte waren, die sie ihn sagen hörte.
17 GLÜCKLICHE EHE
E nrique wachte neben seiner Frau auf, ein allmähliches, leichtes Wachwerden. Er drehte sich auf den Rücken, streckte sich schläfrig wie beim Sonnenbaden und sah in das blaue Licht der Morgendämmerung, das durchs offene Fenster drang. Er hörte das Wasser leise gegen die Pfeiler des Hotels Danieli schwappen. Venedig ist wirklich eine ertrinkende Stadt,
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