Glückliche Ehe
dachte er. Die hereinwehende Oktoberluft war mild, und Enrique störte es nicht, dass sie durch das teuerste Fenster wehte, das er sich je geleistet hatte. Er empfand eine tiefe Ruhe. Diese Art Zufriedenheit, die Abwesenheit von Erwartung und Sorge, erlebte er selten, ja vielleicht jetzt gerade zum ersten Mal, und den ganzen letzten Monat war seine Gefühlslage eine ganz andere gewesen.
In den Wochen bevor Margaret von New York nach Frankfurt geflogen war, um von dort zusammen mit ihm nach Italien weiterzureisen, hatte er angespannt und zusammengerollt wie ein Embryo geschlafen, als wäre er in einem Schützengraben unter Beschuss. Jeden Morgen beim Aufwachen hatten ihm die Kiefer und das Zahnfleisch wehgetan, was laut den finsteren Warnungen seines Zahnarztes bedeutete, dass er mit den Zähnen knirschte, und da war der bekannte Magenschmerz, den seine beruflichen Ängste verursachten – aber nicht jetzt, nach seiner ersten Nacht inVenedig, nicht hier in dieser Morgendämmerung, im Danieli.
Drei Tage lang hatte er auf der Frankfurter Buchmesse für die deutsche Ausgabe seines achten Romans geworben, der in den USA vor eineinhalb Jahren erschienen und sang- und klanglos wieder in der Versenkung verschwunden war. Er hatte all diese Nächte so mühsam geschlafen, weil er angesichts der öffentlichen Reaktion auf seine schriftstellerische Arbeit wieder einmal allen Mut verloren hatte: der lange, laute Nachhall des Misserfolgs. Wenn er in dieser Stimmung über seinen Beruf nachdachte, hörte er förmlich, wie ihm sein guter Freund und Schriftstellerkollege Porter vorhielt: »Du bist kein Versager, Enrique. Du verwechselst Geld mit Qualität.«
Porter Beekman, ein Bollwerk puritanischer Unbeugsamkeit und literarischen Zynismus, hatte mit dieser Unterscheidung zweifellos recht, aber Enrique trösteten seine Worte nicht. Sicher, vor Jahren war Enrique am Boden zerstört gewesen, als ihn der finanzielle Misserfolg seiner Romane zwang, sich der verdrängten Gewissheit zu stellen, dass sie nicht gut waren. Doch bei seinem letzten Buch war er trotz der miesen Verkaufszahlen mit seiner Arbeit zufrieden gewesen. Dass der Roman kein großes Publikum zu interessieren vermochte, hatte ihn gerade deshalb so verzweifelt gemacht, weil er glaubte, sein Bestes gegeben zu haben. Seine Enttäuschung äußerte sich nicht mehr wie in seiner Jugend in melodramatischen Gesten: »Ich bringe mich um!« Jetzt war ihm, als ob er das Urteil eines Gerichts in letzter Instanz hörte und sich in Alter und Tod ergeben müsste.
Er war älter geworden, er war jetzt dreiundvierzig. Er hatte jemanden sterben sehen, den er liebte und der für ihn Kraft und Stärke bedeutet hatte: seinen Vater. Er hatte dieses schöne, vitale Gesicht reglos und blutleer gesehen. Er wusste, dass diese – im Zorn wie in der Begeisterung – volltönendeStimme für immer verstummt war. Und acht Monate nach diesem Tod hatte Enrique seine Ambitionen begraben müssen, als sein ehrgeizigster Roman erschien und kaum Beachtung fand. Was auch immer er noch vollbringen würde, es würde nie an die Träume seiner Jugend heranreichen.
Gut ein Jahr hatte er sich eingeredet, dass seine umfassende Verzweiflung vorübergehend sei, der natürliche Prozess des Trauerns um seinen Vater und um ein Buch, das ihm so viel abverlangt hatte. Die Recherchen für den Roman hatten zwei Jahre gedauert, das Schreiben noch mal fast so lange, und ein weiteres Jahr war durch die notwendigen Unterbrechungen für die Drehbücher draufgegangen, die er gemeinsam mit seinem Bruder schrieb und die sein literarisches Unternehmen finanzierten. Noch schwerwiegender als die fünf verlorenen Jahre war das Gefühl, dass er sich völlig leergeschrieben hatte – die neunhundert Seiten waren eher drei Romane als einer und enthielten sein ganzes Wissen um die Menschen und die Welt. Hab Geduld, sagte er sich, dann kommst du über beides hinweg, den Verlust und die Niederlage.
Doch die Einsamkeit und Mutlosigkeit blieben. Lange bevor er nach Frankfurt geflogen war, hatte er begriffen, warum. Dass sein Vater, der Motor seiner Karriere, nicht mehr lebte, war ein dauerhafter, unersetzlicher Verlust. Guillermo war ihm ein fast schon zu glühender Bewunderer gewesen. Als Enrique im Bemühen, seinen sterbenden Vater mit Belanglosigkeiten zu verschonen, nicht mehr von seinen Drehbuchbesprechungen berichtete, beklagte sich Guillermo sofort. »Du glaubst, das sei deine Sache. Aber ich glaube, du und ich, wir sind eine
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