Glückliche Ehe
und auf die er sich ebenso offenkundig eine Menge einbildete. Leo blies sich auf, dass Enrique ahnte, wie sein Halbbruder allen erzählen würde, welch bewegende Worte er an seine sterbende Schwägerin gerichtet hatte und wie nett und aufmerksam es doch von Jonah gewesen sei, ihn zu begleiten. Leo erklärte Margaret, er habe immer zu Jonah gesagt, wie sehr er sie dafür bewundere, wie sie ihre Söhne erzogen habe, dass von allen Müttern, die er kenne, sie den konsequentesten undermutigendsten Erziehungsstil gehabt habe, wodurch Greg und Max eigenständige und unerschrockene Denker geworden seien. Es störte Leo offensichtlich nicht, dass er damit womöglich das Vertrauen seines Sohns in den Erziehungsstil seiner Mutter untergrub. Im Gegenteil, das war sein taktischer Trick: Er machte sich verdient, indem er eine Sterbende lobte, während er in Wahrheit eine verdeckte Attacke gegen seine Exfrau führte.
Enrique hätte Leos verdrillte Gehässigkeit amüsant gefunden, wenn er nicht so müde gewesen wäre – müde bis in die Knochen, müde in Kopf und Seele. So müde, dass er vergaß, was genau er Margaret hatte sagen wollen, außer, wie sehr er sie liebte und dass er gar nicht gewusst hatte, wie sehr er sie liebte, bis er mit der Möglichkeit konfrontiert gewesen war, sie zu verlieren. Wollte er das wirklich sagen? Es klang plötzlich so idiotisch und grausam.
Margaret hörte ihrem Schwager höflich zu und bewegte dabei leicht den Beutel mit ihrem Mageninhalt, um den Ablaufvorgang zu beschleunigen, was die eklige Flüssigkeit zwangsläufig in den Blickpunkt rückte. Die Mischung war grün von Galle und orange von einem Fruchtsafteis und sah aus wie radioaktive Brühe. Leo versuchte unbedingt diesen Anblick zu meiden, was rasend komisch wirkte, aber Enrique konnte – statt die schönen und wahren Worte, die er Margaret hatte sagen wollen, zu rekonstruieren – nur einen Gedanken denken: dass er in einer Welt ohne seine kontrollierte und kontrollierende, hübsche und tapfere, amüsante und fordernde, liebevolle und reservierte Frau leben würde, in der sich dafür bedürftige Narzissten wie sein Bruder tummelten, der noch am Sterbebett seiner Schwägerin damit beschäftigt war, eigene Rechnungen zu begleichen, und deshalb nicht einfach nur etwas Freundliches sagen konnte.
Wollte er deshalb Margaret doch nicht mehr sagen, dass er sich erst sicher gewesen war, sie zu lieben, als sie krankwurde?, fragte er sich, während er eine steife Umarmung seines Bruders und seines Neffen über sich ergehen ließ, beide nach unten brachte und die Wohnungstür aufhielt, um sicherzustellen, dass sie wirklich gingen. Äußerte auch er sich in solchen selbstbezogenen Posen, wie es in seiner intelligenten, aber menschlich unterbelichteten Familie üblich war? Warum nicht einfach sagen, ich liebe dich, ich werde dich unendlich vermissen, danke, dass du es fertiggebracht hast, mich zu lieben, mich schwieriges, kindisches, unfähiges Wesen, danke, danke, danke …
Aber auch dazu kam er nicht. Das Telefon klingelte. Rebecca nahm den Anruf an, und dann kam plötzlich Max aus seinem Zimmer. Enrique hatte gedacht, er sei nicht im Haus, und war noch überraschter, als sich herausstellte, dass eine junge Frau bei ihm war. Sie wurde ihm als Lisa vorgestellt. Max hatte sie in letzter Zeit oft erwähnt, aber immer als Teil der Clique, mit der er ausging. Enrique hatte nie gefragt, ob sie ein Paar seien. Nach dieser Begrüßung brauchte er nicht mehr zu fragen. Lisa sah ihn an: sehr große blaue Augen in einem netten, fröhlichen Gesicht. Er wollte zu seinem Sohn sagen: »Gratuliere.« Stattdessen fragte er wie der humorlose Quälgeist, der er geworden war: »Ich habe dir für morgen Mittag Zeit mit deiner Mutter eingeteilt. Ist das okay?«
Max nickte. Er hatte vor Schlafmangel Augen wie ein Waschbär, und seine Schultern waren derzeit immer angespannt, als ob ihm ständig ein kalter Wind in den Rücken bliese. »Wir müssen jetzt los«, murmelte er und zog an Lisas Hand. Sie wirbelte freudig herum, eine willige Tanzpartnerin, und folgte ihm zur Tür. »Hat mich gefreut«, rief sie Enrique noch zu, mit einem Lächeln, als entschuldigte sie sich für Max’ Schroffheit.
Max wollte nicht wahrhaben, was mit seiner Mutter geschah, aber er hatte sich jetzt wenigstens bereit erklärt, sich von ihr zu verabschieden. Enrique spürte, dass es eineNiederlage war, die sein jüngerer Sohn nie ganz akzeptieren würde.
Enrique hatte sein Bestes getan,
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